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„Die Frage ist, was genug ist“ // Schönheitsfehler Interview

„Die Frage ist, was genug ist“ // Schönheitsfehler Interview

Schönheitsfehler
Schönheitsfehler
Schönheitsfehler im Porträt: Milo, Paul & Burstup (v.l.n.r.). Foto: Daniel Shaked

Das Comeback ist perfekt: Die Wiener HipHop-Veteranen Schönheitsfehler sind zwölf Jahre nach ihrer Auflösung mit einem neuen Album zurück. „#gutesleben“ ist ab dem 1. Dezember in verschiedenen Editionen erhältlich. Der Name ist Programm, denn Milo, Paul und Burstup setzen sich darauf verstärkt mit Faktoren für ein gutes Leben auseinander. Ziel ist es, im Kontext verschiedener, Themenbereiche – etwa Chancengleichheit, Respekt oder Glück – konstruktive Gedanken zu verbreiten. Dafür haben sich die drei ein interessantes Konzept überlegt. Ergänzend zu den Tracks liefern sie jede Menge weiteren Output in Textform, der zum Nachdenken anregen soll. Wir haben Schönheitsfehler zu einem entspannten Gespräch getroffen, um über Hintergründe zum Album, Konsum, Glück, Bubbles und Spekulationsobjekte zu plaudern.

The Message: Wie schätzt ihr eure aktuelle Hörerschaft ein? Sind noch viele von früher dabei oder hat sich das nach der langen Auszeit eher neu entwickelt?
Milo: Wir bekommen da und dort Feedback und da merkt man, dass es eigentlich wie früher ist – bei round about 16 geht’s los bis Richtung 50.
Burstup: Gestern haben mich zwei Leute in der Arena angesprochen. Einer war ein Teenager, der gemeint hat, dass er den Beat von „Gutes Glück. Schlechtes Glück“ so interessant findet. Der andere war ein gleichaltriger Freund von früher, der gesagt hat: ‚Leiwand, dass ihr wieder etwas macht!‘ Ich glaube, dass es sich vermischt.
Milo: Mir ist wichtig, dass sie sich darin wiederfinden, dass es etwas ist, das jemanden im besten Fall weiterbringt.
Paul: Es handelt sich bei #gutesleben um ein Konzeptalbum. Es sind lebensbestimmende Inhalte, die alle ansprechen. Es kann sein, dass jemand zum Beispiel den Text von „Wassermann“ anders interpretiert, oder erst später drauf kommt, worum es wirklich geht. Aber einschätzen ist schwer.
Milo: Das ist auch jedem selbst überlassen. Es ist, denke ich, ein schöner Querschnitt der Gesellschaft. Aber doch eher Leute, die dazu neigen, sich um ihr Leben beziehungsweise das Leben anderer Gedanken zu machen und musikalisch ein breiteres Spektrum haben. Es ist, denke ich, auch sehr davon abhängig, in welcher Lebensphase man sich befindet. Du kannst ein komplett tighter Typ sein, aber hast momentan auf so etwas keinen Bock. Dann gibt’s Leute, die super darauf reflektieren, weil sie sich gerade sehr mit einer bestimmten Thematik, die ein Song behandelt, befassen.

Ihr hattet immer schon eine gesellschaftspolitische Ader. Inwieweit hat sich diese mit der Zeit verschärft?
Milo: Das kommt jetzt vielleicht nur einfach stärker raus, weil ich diese ganzen Doppel- und Dreifachbödigkeiten bei den Texten nicht mehr einbaue. Früher habe ich sehr viel mit versteckten Hinweisen gespielt, jetzt ist es wirklich Hose runter und geradeaus sagen, was Sache ist. Weil’s für mich um etwas Größeres als Selbstdarstellung geht.

Wann habt ihr euch dazu entschlossen, gutesleben.solutions als „Homebase für konstruktive Gedanken, gute Musik und schöne Dinge“ ins Leben zu rufen, um begleitend zu den Tracks Artikel zu veröffentlichen?
Burstup: In der Endphase der Albumproduktion haben wir begonnen zu überlegen, wo und wie wir das veröffentlichen wollen. Wir sind relativ schnell zum Entschluss gekommen, dass wir das am besten selbst machen. Dass wir diesen DIY-Gedanken, der uns immer wichtig war, noch enthusiastischer verfolgen und das Web als Vehikel verwenden, um „konstruktive Gedanken“ zu verbreiten. Aber auch, um die Musik, das Album in einer Form zu verkaufen, die über die CD hinausgeht. Das Medium ist in diesem Fall die Message. Es gibt Spezialeditionen, zum Beispiel die Wasserflasche, ein Buch mit CD und ein Tape.
Milo: Im Buch ist alles verdichtet drinnen – die Texte, die Artikel, die Artworks – es ist das Symbol für Bildung, Wissen, für Knowledge. Das Buch ist zum Angreifen, die Plattform bzw. der Blog ist die jetzige Form.
Paul: Als wir zusammengesessen sind und gewusst haben, dass wir die Plattform machen, gab es schon einige Texte und Überlegungen, wie das ausschauen soll. Dann haben wir nach geeigneten URLs gesucht und haben uns für gutesleben.solutions entschieden.

Machen Menschen generell ihr Glück bzw. ihren Frohmut zu sehr von wirtschaftlichen Faktoren abhängig?
Milo: Generell würde ich nicht sagen. Ich denke, dass jeder mal in dieses Rad reinkommt. Dadurch, dass die Gesellschaft, in der wir leben, kapitalistisch orientiert ist, bekommt man von klein auf mit, dass es dir besser geht, wenn du mehr hast. Die Frage ist, was genug ist.
Paul: Die Menge macht das Gift. Wenn man sich irgendeinen Fetzen kauft, der einem taugt, zieht man ihn das erste Mal an und es fühlt sich gut an. Wenn du dir 10.000 Fetzen kaufst, wirst du auch nicht glücklicher werden. Mich macht es glücklich, wenn ich mir neue Schuhe kaufe, mich darüber freue und gut auf sie aufpasse. Dann latsch‘ ich aber nicht gleich damit aufs nächste Konzert, damit sie am nächsten Tag ausschauen wie Sau. Das andere Glück ist mit meiner Frau und unserem Kater auf der Couch zu liegen, das ist auch Glück.
Burstup: Es hängt natürlich von wirtschaftlichen Faktoren ab. Wir haben 2008 die größte Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte erlebt. Leute haben ihre Häuser verloren, auf einmal Riesenschulden gehabt. In Griechenland wurden die Pensionen gestrichen. Weltweit sind vier Milliarden Menschen unbanked oder underbanked. Sie haben keine Bankkonten, können nicht am weltweiten Wirtschaftskreislauf teilnehmen. Es ist eine First-World-Sicht, zu überlegen, wovon Glück abhängt und was das mit dem Konsum zu tun hat. Was Konsum und Glück angeht, wird im Song „Glück“ und im Artikel dazu thematisiert, dass wir alle das Belohnungssystem im Gehirn haben – das Dopamin-Zentrum, das immer dann einen kleinen Schuss Dopamin ins Gehirn schickt, wenn wir uns etwas kaufen oder irgendein Reiz befriedigt wird. Eine ganze Industrie hat entdeckt, wie man das benützen kann, um uns in kleine Süchte hineinzumanövrieren. Sei es Spielsucht, Konsumsucht oder auch Kaufsucht. Wir können auf alles süchtig werden, was unser Belohnungssystem im Gehirn aktiviert und das wird von Konzernen und Industrien sehr geschickt benützt.

Wie kommt man zum Punkt, zu verstehen, dass man auch mit weniger auskommt? Es gibt zum Beispiel Leute, die unglücklich sind, obwohl sie zwei Autos besitzen…
Burstup: Die Autos laufen dann oft auf Kredit und es liegt ein psychologischer Mechanismus dahinter. Ein Mensch, der ins Casino geht, sein ganzes Geld verspielt und 100.000 Euro Schulden auf der Bank hat, damit er weiterspielen kann, ist in eine Falle getappt. Das meinen wir mit dem „Glück“-Song. Deshalb kommt das Wort Glück so oft lautmalerisch vor und wir denken über diese Kommerzialisierung von Glück nach.
Milo: Ich habe bewusst Ernst-Jandl-mäßig das „Glück“ permanent eingebaut. Es ging ums Lautmalerische, ums Hinpecken – an jeder Ecke Glück, Glück, Glück…

Inwieweit haben wir verlernt, zu reflektieren, was es wirklich braucht?
Milo: Du brauchst Vorbilder, Input, Wissen. Dann kannst du für dich selbst entscheiden. Wenn du das aber nicht weißt und aus deinem Umfeld alles nur so erlebst, ist das deine Realität. Realitäten sind sowieso komplett verschiebbar. Jeder von uns hat ein Leben und eine Grundrichtung, aber es hängt irrsinnig davon ab, wen du zu welcher Lebenszeit kennenlernst, welche Einblicke du bekommst. Damit du deine Rückschlüsse ziehen kannst, um dann darauf zurückgreifen zu können.

Auf der Website habt ihr die Frage in den Raum geworfen, was ein gutes Leben ist. Wie würdet ihr das für euch definieren bzw. was sind die größten Eckpfeiler dafür?
Milo: Es gibt ein paar Grundsachen, die gute Eckpfeiler sind. Würde, Respekt, Gerechtigkeit, auch Energie, dass man damit haushalten kann und sich dessen bewusst wird, wie voll oder leer die Batterie ist. Oder auch #familie, das ist der Topic bei „Partyarmee“. Familie muss nicht klassisch definiert sein. Manche können mit Familie nichts anfangen, weil es innerhalb ihrer Familie problematisch ist. Für mich ist das eher ein Überbegriff für meine Freunde und mein Umfeld, in dem ich mich wohlfühle. Das sind Eckpfeiler – wenn man ein paar davon hat und sich wohlfühlt, hat man schon ein gutes Leben. Aber wenn du nichts davon hast, nicht respektiert wirst, keine Würde erfährst, keine Familie oder Freunde hast, energielos bist und keine Gerechtigkeit erfährst, dann hast du einfach ein kein gutes Leben.
Paul: Es ist ein Querschnitt aus dem, was wir als gutes Leben empfinden. Aus den vielen Diskussionen und Gesprächen, die wir geführt haben, haben sich diese 12 Punkte ergeben.

#1Million – #freiheit: Chancengleichheit für alle.
Wassermann – #gerechtigkeit: Wasser ist ein Menschenrecht.
Koala, Baby! – #gelassenheit: Faulheit fördert die Innovation.
Gutes Glück. Schlechtes Glück. – #zufriedenheit: Welches Glück?
Start Up & Fight – #mut: Mutmenschen statt Wutmenschen.
Ich will – #respekt: Faire Regeln und Solidarität.
Energievampire – #energie: Lass es raus.
Mein T-Shirt – #fantasie: Diversität zum Tragen.
Partyarmee – #familie: Verbring mehr Zeit mit deinen Lieben.
Du bist auch wer – #würde: Keiner ist mehr oder weniger.
Mensch – #empathie: So wie du.
Das Leben – #zeit: Das Leben sind wir, sind die davor, die jetzt und hier und alle die noch leben werden.

Milo: Im Endeffekt ist es keine Feel-Good-Platte. Da sind extrem viele schwere Themen drin. Als ich sie das erste Mal im engeren Kreis vorgespielt habe, das waren durchaus Leute, die damit etwas anfangen konnten. Die haben gesagt: ‚Puh, okay – das ist viel!‘
Paul: Die haben schon geschluckt.
Burstup: Einem Freund habe ich als erste Nummer „Mensch“ vorgespielt, das ist wohl eine der Heftigeren.

Was ist da der Themenschwerpunkt?
Burstup: Da geht’s um Empathie, speziell um Empathie mit Menschen auf der Flucht, mit Schutzsuchenden. Darum, dass die auch nur ein besseres Leben wollen und sich nicht ausgesucht haben, dass ihre Heimat zerbombt wird. Der Song ist sehr atmosphärisch und schwer. Als ich das vorgespielt habe, kam die Frage, ob das ganze Album so heftig ist.
Milo: Auf der anderen Seite ist es ein bewusst positives Album, mit Fokus auf dafür statt dagegen.
Es hat sehr viel Inhalt drinnen und uns ist bewusst, dass es nichts super-mainstreamiges ist, wobei ich glaube, dass diese Thematiken in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind und sie auch in der Unterhaltung diesen Platz beanspruchen sollten. Pop, HipHop oder Rap, all das, war für mich immer ein Draufhalten, wo es wehtut.

Ein Spiegel der Gesellschaft quasi?
Milo: Ja, oder ein Spiegel der Zeit, von dem, was um einen herum ist und gerade aktuell ist. Das sind leider fast zeitlose Themen. Wir haben versucht, das trotzdem möglichst neutral zu halten und nicht mit dem Finger auf jemanden zu zeigen – das macht keinen Sinn. Deshalb auch „konstruktive Gedanken“. Ein Track, der direkt aus dem Gefühl heraus entstanden ist, war „Ich will“. Ich hatte bewusst einige Diskussionen mit Leuten, bei denen ich gewusst habe, dass sie nicht auf meiner Wellenlänge sind. Nicht nur politisch. Ich habe mich darauf eingelassen und versucht, meine Bilder, die ich von den jeweiligen Menschen hatte, wegzulassen. Wenn das gelungen ist, war es am Ende des Gesprächs immer so, dass man zwar unterschiedlicher Meinung war, aber man hat sich respektiert und gleichzeitig gemerkt, dass der andere im Grunde gut sein will. Wenn ich auf dich zugehe und immer mit dem Finger auf dich zeige, wirst du automatisch zurückschießen oder dich verschließen.

Für wie wichtig erachtet ihr es, regelmäßig aus der eigenen „Meinungsblase“ hervorzutreten und das Gespräch mit Leuten zu suchen, die ganz anderer Ansichten sind?
Milo: Das geht nur, wenn du in deinem Kern halbwegs gefestigt bist. Wenn du gefestigt bist, weißt du, wofür du stehst und was deine Meinung ist, aber du kennst und respektierst auch andere Lebensrealitäten. Du kannst dich hineinversetzen, warum jemand so wird, oder so reagiert. Wenn man ganz ehrlich zu sich selbst ist, findet man vielleicht Punkte, bei denen man sagt: ‚Okay, rein technisch gesehen gehe ich damit konform. Nur der Lösungsansatz ist falsch.‘ Nämlich, dass das Gegenüber sagt: ‚Alle raus, alle weg, alles schlecht.‘ Schluss, aus und man muss sich damit nicht auseinandersetzen. Das ist einfach nur Faulheit. Und die bringt einen dazu, sich zu verschließen und schwarz-weiß zu denken. Dabei helfen gerade unterschiedliche Blickwinkel zu besseren und nachhaltigeren Lösungen.
Burstup: Ich habe als Journalist oft die Situation, dass ich mit Leuten ein Interview machen will, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie ganz andere Ansichten haben als ich und ich nicht einverstanden damit bin. Wenn ich mich in dieses negative Gefühl hineinsteigere, kommt ein schlechtes Gespräch raus. Irgendwann habe ich gelernt, bevor ich in die Gesprächssituation gehe, ein paar Dinge mit mir selbst zu machen, um herauszufinden, was der Gesprächspartner von mir will. Ich habe leere Sessel hergenommen und mir vorgestellt, dass der Interviewpartner draufsitzt. Dann setze ich mich in diesen Sessel, schau den Burstup an und überlege mir, was der von mir will, wie sich der mit mir fühlt, wie er sich anhört und ausschaut. Dann kann ich in eine Metaposition gehen, mir das von außen anschauen und mich fragen, wie das auf die Zuhörer/Zuschauer wirkt. Wenn man paar mal hin- und herspringt, kommt man auf ein paar grundlegende Dinge. Aber eher auf einer Gefühlsbasis, nicht auf einer rationalen Ebene. Was der Gesprächspartner will, dass er auch respektiert werden möchte. Es kommen viel bessere Interviews raus, wenn ich sowas vorher mache.

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Themenwechsel: Ihr deklariert euch als Befürworter von Kryptowährungen wie Bitcoin. Burstup, du hast kürzlich auf Twitter digitale Zahlungsmittel als Revolution mit mehr Tragweite als die industrielle Revolution und stärkeren Auswirkungen als die Digitalisierung bezeichnet. Was stimmt dich so sicher, dass diese Währungen das Geldsystem komplett kippen?
Burstup: Kryptowährungen existieren seit neun Jahren. 2009 wurde die Software vorgestellt und die Erfindung hat ein zuvor ungelöstes Problem gelöst. Nämlich: Wie kann ich fälschungssicheres Internet-Geld erzeugen, das man nicht kopieren kann und direkt vom einen User zum anderen geschickt wird. Nicht über eine Bank, ein Clearinghaus, PayPal oder Visa. So wie ich dir einen 10-Euro-Schein in die Hand drücken kann, ist es eine Peer-to-Peer-Transaktion, man wollte ein Peer-to-Peer-Geld im Internet haben. Das konnte man bis 2009 nicht lösen, weil es in der Natur des Internets liegt, dass man Informationen beliebig oft kopieren kann. Es wurde gelöst – diese Erfindung lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Selbst wenn Bitcoin sich nicht durchsetzt – das Rad ist erfunden, das Prinzip des elektrischen Stroms ist erfunden und Bitcoin ist erfunden (lacht). Irgendetwas wird damit passieren. Schon jetzt passiert viel. Die Verbreitung von Bitcoin ähnelt stark der Verbreitung des Internets in den 1990er-Jahren, der Verbreitung von Handys und Smartphones, die plötzlich überall waren. Es ist ein exponentielles Wachstum. Derzeit haben Kryptowährungen in der ersten Welt eine User-Basis von knapp einem Prozent. Das ist nicht viel, aber da die Entwicklung exponentiell ist und es sich jährlich verdoppelt – von eins auf 100 braucht man sieben Verdoppelungen bis zu einer vollkommenen Marktdurchdringung.

Ist Kryptogeld zum jetzigen Zeitpunkt eher ein Spekulationsobjekt oder ein tatsächlich zum Zahlen verwendetes Mittel?
Burstup: Im Moment sehen es die Leute als „Store of Value“, als Möglichkeit, Wert aufzubewahren und dabei unabhängig von Firmen und Banken zu sein. Also es ist zur Zeit eher ein Spekulationsobjekt. In paar Ländern wie Japan ist es als Zahlungsmittel schon akzeptierter. Die japanische Regierung hat es als legales Zahlungsmittel festgeschrieben. Du gehst in große Supermärkte und Läden wie Big Camera – das ist dort der größte Elektrofachhändler – und kannst dort mit Bitcoin zahlen. Vereinzelt sieht man das schon. Ich glaube, dass das zuerst in Entwicklungs- und Schwellenländern passieren wird. Wir haben ja unsere Bankomaten, Visa-Karten und Bankkonten. Aber es gibt Länder und Regionen, wo die Leute das alles nicht haben, es aber plötzlich überall Handynetze gibt. In Afrika gibt es zum Beispiel keine Telefonleitungen, die haben diese Technologie komplett übersprungen.
Milo: Die Zahlen ja jetzt schon mit Handyguthaben.
Burstup: In Ländern wie Kenia, Südafrika und Liberia stehen überall die Handymasten. Bitcoin beginnt sich dort viel rasanter zu verbreiten als bei uns. Es wird zehn bis zwanzig Jahre dauern, bis Kryptowährungen im Alltag, im Mainstream sind. Ansätze dafür sieht man schon. Das W3C-Konsortium, das die Standards im Web definiert, hat Kryptowährungen, das Bitcoin-Protokoll gerade als Standard in die Web-Protokolle aufgenommen. Aber im Moment wird viel spekuliert, es ist eine Blase. Die vierte Blase in der Geschichte von Bitcoin. Aber es ist eine Technik-Bubble. 1999 gab es die Dotcom-Bubble, die ist geplatzt. Damals sind Start-ups pleitegegangen, Leute haben Geld verloren. Aber das Internet ist nicht gestorben (lacht). Die großen Erfindungen kamen erst danach – die riesigen Social-Media-Dienste. Im Vergleich zur tatsächlichen Bubble, in der wir uns befinden, sind die Bitcoin-Blasen Technik-Bubbles, die auf ein starkes exponentielles Wachstum hinweisen. Wir haben die größte Derivate-Blase in der Geschichte der Menschheit – seit 2008 sind auf Schulden basierende Finanzprodukte geschaffen worden, die ein Vielfaches mehr Wert sind als das Bruttosozialprodukt der ganzen Welt. Wir haben eine Immobilienblase, die genau so groß ist wie 2007 und die größte Schuldenblase in der Geschichte der Menschheit. Diese drei Blasen – man nennt es die Everything-Bubble – sind so groß wie nie zuvor und wir steuern vielleicht auf eine Krise zu, die größer sein wird als die Lehman-Pleite und die Immobilienblase von 2008. Kryptowährungen können als Versicherung dagegen dienen, mit der man die Freiheit hat, sein Geld selbst zu verwalten, das einem niemand wegnehmen kann. Es kann keinen Haircut von der Bank geben wie in Zypern. Keine Regierung kann sagen, wir nehmen das Gold weg. Das geht mit Kryptowährungen alles nicht.

Im Text zu „#1 Million“ schreibt ihr von einem Konstruktionsfehler im Finanzsystem. Wie definiert sich dieser?
Burstup: Damit ist das Teilreservesystem gemeint, dass die Banken benützen können. Wir haben eigentlich zwei Geldsysteme. Wir haben einen Euro, aber es gibt zwei verschiedene Arten. Wir haben das von der Zentralbank erschaffene Geld – man sagt, dass die Bank Geld druckt, in Wirklichkeit bestimmt sie die Geldmenge – und dann gibt es Privatbanken, die in dem Moment, in dem du einen Kredit aufnimmst, Geld schöpfen. Wenn du einen Kredit aufnimmst, nimmt die Bank ja nicht von jemandem anderen eingelegtes Geld aus dem Tresor und gibt es dir, sondern ein Bankangestellter tippt die Summe, die du dir von der Bank ausborgst in einem Computer ein. Auf deinem Girokonto erscheint dieser Betrag und gleichzeitig hast du auf deinem Kreditkonto ein Minus. Das Geld wurde im Moment der Kreditvergabe erschaffen, das hat es vorher nicht gegeben. Die Bank braucht nur einen kleinen Prozentsatz an Reserve für das, was sie verborgen darf. Die Prozentsätze ändern sich immer wieder und sind von Land zu Land verschieden.

Das heißt quasi, dass in Zeiten einer Finanzkrise Banken ihre Kunden komplett anlügen müssen indem sie so tun, als ob sie das Geld eh hätten?
Burstup: Wenn wie 2007 in der Immobilienblase oder jetzt mit den Derivaten sehr viel Geld von der Zentralbank erschaffen wird und die Leute viele Kredite aufnehmen, steigt die Geldmenge extrem an. Das Geld kriegen aber natürlich zuerst Leute, die im Finanzsektor arbeiten, bei den Börsen sind und bei den Banken arbeiten. Die entwickeln schlaue Finanzprodukte, die immer komplizierter werden – eben Derivate, wo ein Produkt und eine Firma vom anderen abhängt. Das kann zum Domino-artigen Zusammenbrechen führen, was jede Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte ausgelöst hat. In unserem Wirtschaftssystem ist eine Kette von zigtausenden von Millionenverträgen, Firmen und Wetten entstanden, die voneinander abhängen. Die derzeitige Derivateblase ist die größte vom Menschen erschaffene, sie ist um ein Vielfaches größer als alle bisherigen.

Kann sie noch weiter anwachsen?
Burstup: Sie wächst extrem. Es wird immer mehr Geld gedruckt. Das wird kein gutes Ende nehmen. Die nächste Krise wird glaube ich ein Ausmaß annehmen wie 1932. Deswegen ist Kryptowährung ein so wichtiges Gegenmittel. Weil wir ein anderes Finanzsystem brauchen werden, wenn’s kracht.
Milo: Bevor wir uns alle die Kugel geben (lacht): Bei „#1 Million“ war mein Gedankenspiel, dass jeder eine Million bekommt, wenn er auf die Welt kommt. Ich habe bewusst nicht gesagt, eine Million wovon. Es kann alles sein, aber eine Million an Wert. Keine Peanuts. Es soll nicht davon abhängen, ob du in der Sahelzone, im 1. Bezirk oder in Rio de Janeiro im Favela zur Welt kommst, komplett wurscht. Du hast eine solide Basis, Chancengleichheit und wenn du dir die auf den Schädel haust, bist du selbst schuld. Jetzt wird die Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen hauptsächlich in eine Richtung geführt – kriegst halt ein paar Hunderter. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Was werden sie im Gegenzug machen? Alle Sozialleistungen abschaffen, weil du ja eh das Grundeinkommen bekommst. Daher wird es immer wichtiger, dass man Wissen aufbaut. Wir wollen Wissen im Rahmen unserer Möglichkeiten weitergeben. So hat Burstup zB. eine einfache Einführung zum Thema Bitcoin auf unsere Seite gestellt. Hilfe zur Selbsthilfe. Jetzt, wo #gutesleben fertig ist und erscheint, freuen wir uns natürlich, wenn es viele Leute erreicht, anspricht oder inspiriert.

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