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Eine nigerianische Lawine: #EndSARS

Eine nigerianische Lawine: #EndSARS

Unter dem Banner #EndSARS protestieren seit Anfang Oktober 2020 zehntausende Nigerianer*innen gegen Polizeigewalt. Trotz erster Zugeständnisse der Politik ebbt die Protest-Welle nicht ab, die Nervosität der Regierenden steigt. Über eine Jugend, die sich endlich Gehör verschaffen will.

#EndSARS-Proteste in Lagos // (c) Tobi Oshinnaike via unsplash.com

Viele Revolutionen sind die Folge eines Schneeballeffekts. Sie beginnen mit einem aufsehenerregenden, in der Gesamtbetrachtung aber kleinen Vorfall und enden mit einem Systemwechsel. Auch die gegenwärtigen #EndSARS-Proteste in Nigeria sind das Resultat eines Schneeballeffekts. Der Schneeball ist hier ein kurzes Video, das Anfang Oktober 2020 viral ging. Auf dem Mitschnitt ist zu erkennen, wie Polizeibeamte in Ughelli im Bundesstaat Delta State einen jungen Mann drangsalieren, auf ihn schiessen und mit seinem Wagen davonfahren.

Der nigerianische Arbeitsminister Festus Keyamo erklärte später, dass entgegen anderslautenden Medienberichten der junge Mann am Leben sei. Das Video würde auch nicht Beamte der SARS, der „Special Anti-Robbery Squad“, zeigen, sondern Beamte der „Operation Delta Safe“. Ob SARS oder „Operation Delta Safe“, macht für das Opfer der Polizeigewalt aber wohl keinen Unterschied. Auch nicht für die Protestierenden, die mit #EndSARS die größte landesweite Protestwelle in Nigerias demokratischer Ära organisierten.

Dass der Verdacht sofort gegen die SARS laut wurde, hängt mit ihrem Ruf zusammen. Die SARS ist berüchtigt für ihre Brutalität. Ein Gewaltexzess wie jener in Ughelli würde keine Besonderheit darstellen. Dieses Mal war es jedoch anders. Befeuert durch internationale Bewegungen gegen Polizeigewalt, die Dynamik sozialer Netzwerke und dem desaströsen Verhalten der Polizeieinheiten bei den ersten Protest-Aktionen, formte sich aus den Protest-Schneebällen eine Lawine. Eine Lawine, in der sich die angestaute Wut über alltägliche Polizeiwillkür, aber auch über ein faules politisches System ansammelt. Eine Lawine, die noch lange nicht zum Stillstand gekommen ist.

Eine Geburt der Polizeigewalt

Wie der Name #EndSARS andeutet, war zunächst das primäre Ziel der Proteste ein Ende der 1992 in Lagos gegründeten Spezialeinheit. Bizarrerweise ist die Existenz der SARS ein Resultat von Polizeigewalt: Nachdem 1992 Polizisten in Lagos einen Offizier töteten, suchte das mächtige Militär nach Vergeltung. Polizisten zogen sich daraufhin aus den Straßen zurück. Dieses Vakuum nutzten Räuber-Banden aus. Als die Polizei wieder auf den Straßen zurückkehrte, war sie mit der Situation überfordert.

Mit der Gründung der SARS sollte Sicherheit in Lagos einkehren. Die anfänglich und später immer wieder „gesichtslos“, also nicht uniformiert agierende Einheit, konnte in ihren ersten Jahren durchaus Erfolge vorweisen; wenngleich schon in den frühen 90er-Jahren Unschuldige Opfer von SARS-Operationen wurden. Ab 2002 agierte die SARS landesweit und nach eigenen Regeln. Fulani Kwajafa, der 1984 den Vorläufer der Einheit gründete, sprach gegenüber der BBC von „Banditentum“, das sich in der Spezialeinheit breitgemacht hätte.

Diese Entwicklung hat institutionelle und strukturelle Ursachen. Lange Zeit war die SARS nur gegenüber dem obersten Polizeichef rechenschaftspflichtig. Die Polizeiführung des jeweiligen Bundesstaates, in dem sie tätig war, musste nicht über ihre Operationen informiert werden. 2019 wurde die Einheit dezentralisiert. Danach kontrollierten die Polizeikommissare des jeweiligen Bundesstaats die Einheit. Geändert hat sich wenig. Der SARS war es weiterhin möglich, straffrei zu agieren.

Dabei ist die Liste an Menschenrechtsverletzungen, die Amnesty International der Behörde in dem im Juni 2020 veröffentlichten Bericht „Time to End Impunity“ anlastet, lange. Die SARS verübe nicht nur außergerichtliche Exekutionen, sondern sei auch des Kidnappings, der brutalen Folter mit eigens eingerichteten Folterkammern und der Erpressung von Verdächtigen schuldig. 82 Fälle dokumentierte Amnesty International. Laut des Berichts der NGO ist es vor allem die Altersgruppe zwischen 17 und 30 Jahren, die Opfer von SARS-Operationen wurde.

In dieser Gruppe konnte man leicht zu den Verdächtigen zählen: Ein als auffällig geltender Haarschnitt, Tattoos und der Besitz eines Laptops oder Smartphones reichten schon aus, um von der SARS als ein „Yahoo Boy“, ein Internetkrimineller, identifiziert zu werden. Fast jeder und jede Nigerianerin und Nigerianer kennt jemanden, der Erfahrungen mit der Einheit machte. Auch Bestseller-Autorin Chimamanda Ngozi Adichie, wie sie in ihrem vielbeachteten Beitrag „Nigeria Is Murdering Its Citizens“ für die New York Times berichtete.

Ein Déjà-vu

Auf das viral gegangene Video reagierte Polizeichef Mohammed Adamu in einem ersten Schritt mit einer Order, die der SARS und einigen anderen Spezialeinheiten die Ausübung von Routine-Patrouillen untersagte. Präsident Muhammadu Buhari sprach anschließend von einer Reform der Einheit. Nach negativen Reaktionen auf den Straßen kündigte Adamu am 11. Oktober das Ende der SARS an. Viele erlebten ein Déjà-vu, wurde die Auflösung der SARS zum vierten Mal in fünf Jahren angekündigt.

Am 13. Oktober erklärte Adamu, dass mit dem SWAT („Special Weapons and Tactics Team“) eine neue Einheit die Rolle der SARS übernehmen solle: Das SWAT solle künftig für Rettungsaktionen, Spezialoperationen und bei Raubüberfällen eingesetzt werden. Die neue Einheit werde nicht auf Patrouille gehen und niemand aus den Reihen der SARS würde bei dem SWAT unterkommen, versicherte Adamu.

Ob das alles wirklich der Fall sein wird, ist zu bezweifeln. „It’s just like an old wine in a new bottle“, meint etwa der Polit-Analyst Gimba Kakanda im US-Magazin Time über die SWAT. Menschenrechtsaktivist Femi Falana zeigte sich ebenfalls wenig beeindruckt: „The police high command has banned SARS several times. It has become a ritual. But SARS continues to operate under different names or structure“, lautet sein Statement. Ebenfalls strittig ist die Vorstellung, dass ehemalige SARS-Mitglieder, die sich nun anderen Einheiten anschließen, dort mit ihren alten Gepflogenheiten brechen. In der jüngsten Vergangenheit gab es etliche Beispiele, die das Gegenteil bewiesen haben. Jubelstimmung kehrte bei den Protestierenden daher keine ein.

Auch nicht, als die Regierung am 13. Oktober bekannt gab, dass sie den fünf Forderungen der Demonstrierenden (#5for5) zustimmt. Dazu gehören jene nach Kompensationsleistungen an Hinterbliebene von Opfern von Polizeigewalt und mehr Lohn für Polizeibeamte. Trotzdem gingen die Proteste weiter, weil die Polizeigewalt weiterging. Falls die Regierung hoffte, mit diesen Schritten die Bewegung zu stoppen, hat sie die Leute auf den Straßen falsch eingeschätzt.

Breite Unterstützung

Möglicherweise, weil die #EndSARS-Kampage aus mehreren Gründen außergewöhnlich ist. Anders als bei vielen Protest-Kampagnen gibt es bei #EndSARS keine charismatische Leaderfigur an der Spitze. #EndSARS ist divers aufgestellt, LGBTIQ*-Gruppen sind im breiten Feld der Beteiligten ebenso lautstark vertreten wie die feministische Graswurzel-Bewegung „Feminist Coalition“. Angeführt werden die Proteste von der Jugend. Ein Novum, da Protestbewegungen in Nigeria bislang von älteren Bevölkerungsgruppen ausgingen. Doch bei #EndSARS ist die demografische Mehrheit des Landes – 60 Prozent der 200 Millionen Nigerianer*innen sind unter 25 Jahre alt – federführend. Eine Gruppe, die weiß, wie man das Internet für eine erfolgreiche Protest-Kampagne benutzen muss.

Eine wesentliche Komponente für den Erfolg der Proteste ist das koordinative und organisatorische Geschick der Demonstrant*innen. Dieses strahlt über die Landesgrenzen hinaus. Dank der sozialen Netzwerke und Messenger-Diensten können sich die Demonstrierenden nicht nur lokal organisieren, sondern erreichen auch die nigerianische Diaspora, die sich beispielsweise in London, Toronto oder Washington zu Protesten gegen SARS traf und so ihre Solidarität bekundete.

Zudem verschaffen viele Prominente der Bewegung Publicity und erhöhen dadurch den Druck auf die nigerianische Regierung. Musiker*innen wie Rihanna, Beyoncé, Cardi B, Formel-1-Fahrer Lewis Hamilton, Twitter-Chef Jack Dorsey oder Fußballer Mesut Özil meldeten sich auf unterschiedliche Weise zu #EndSARS zu Wort. In Nigeria selbst engagieren sich zahlreiche Künstler*innen bei den Protesten.

https://twitter.com/DrOlufunmilayo/status/1318799999006801920?s=20

So initiierte Falz, der vor zwei Jahren mit seiner Childish-Gambino-Adaption „This Is Nigeria“ international für Furore sorgte, gemeinsam mit Rapper-Kollegen Run Town eine Demonstration in Lagos. Außerdem setzt er auf Twitter seine juristische Expertise zugunsten der #EndSARS-Demonstrant*innen ein. Weitere prominente Musiker*innen wie Davido, Small Doctor, Flavour oder DJ Switch beteiligten sich ebenfalls an Demonstrationen.

Davido traf sich außerdem mit Polizeichef Adamu, sein Song „FEM“ wurde zur Protest-Hymne. Gegenüber dem amerikanischen Musikmagazin NME erklärte er den Hintergrund der Proteste: „Now, it’s even past #ENDSARS. The government just has to do better. It’s been hundreds of years of the same thing, and this generation is just tired.“ Damit sprach er vielen aus der Seele. Sängerin und She-DJ DJ Switch war unter den Demonstrierenden bei dem Massaker, das sich am 20. Oktober 2020 in einer Mautstelle in Lekki, einem Vorort von Lagos, ereignete: Sie streamte live auf Instagram, als Soldaten in die Menge feuerten. Laut Amnesty International wurden mindestens 12 Menschen getötet.

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Burna Boy, der größte nigerianische Pop-Star der Gegenwart, schwieg zunächst. Nachdem ihm kritische Stimmen Apathie vorwarfen, meldete er sich zu Wort und kündigte an, die Anwaltskosten von allen, die bei den Protesten Probleme mit der Polizei bekommen, via eines Fonds zu übernehmen. Aber nicht nur: Seine Performance bei den „BET Awards“ am 27. Oktober 2020 widmete er den Opfern der Proteste und am 30. Oktober veröffentlichte er den Song „20 10 20“, der sich mit dem Massaker von Lekki auseinandersetzt: „Their lives are on you/We no go ever forget all the youths/Wey die for tollgate“ heißt es etwa darin. Alle Einkünfte aus der Nummer will er an die Hinterbliebenen der Opfer des Massakers von Lekki spenden.

Wizkid, ein weiterer Superstar der nigerianischen Musikszene, forderte auf Twitter von Präsident Buhari „Face your country! und war bei einer #EndSARS-Demonstration in London zu sehen. Aufgrund der Proteste verschob er sein ursprünglich für den 15. Oktober angesetztes Album „Made in Lagos“. Dieses widmete er der nigerianischen Jugend: „Unity is key. The youth of Nigeria need our collective voices to continue to shine a spotlight to what is happening inside the country. I want to play my part in this and in the movement for a better Nigeria, a better place to live for ourselves, our families – our communities. We will get through this together. Together we move. #endSARS“, so Wizkid.

Auch Schriftsteller*innen nehmen eine aktive Rolle ein: Neben der bereits genannten Chimamanda Ngozi Adichie widmeten sich prominente Literat*innen wie Elnathan John in der südafrikanischen Wochenzeitung Mail & Guardian oder Chibundu Onuzo in der britischen Tageszeitung The Guardian in Essays den Protesten. Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka verurteilte das Massaker von Lekki und verglich die Gegenwart mit der Militärdiktatur Sani Abachas in den 90er-Jahren. All diese Äußerungen wecken Erinnerungen an den großen Chinua Achebe, der in seinem 1983 veröffentlichten und immer noch aktuellen Buch „The Trouble With Nigeria“ die politischen Eliten Nigerias scharf kritisierte.

Wird aus #EndSARS #EndBuhari?

Präsident Buhari sagte bei seiner Rede am 12. Oktober, dass die Auflösung der SARS nur der erste Schritt einer weitreichenden Reform der nigerianischen Polizeikräfte sei. Reformbedarf gibt es genug. Im „World Internal Security and Police Index International 2016“ landete die nigerianische Polizei weltweit an letzter Stelle. Eine toxische Gemengelage aus Korruption, politischer Einmischung, fehlender Transparenz, mangelnder Zurechenbarkeit und Straffreiheit ist ein tief im Polizeiapparat verankertes Problem.

Zu befürchten ist, dass dieses auch bestehen wird, wenn 2023 die nächsten Präsidentschaftswahlen in Nigeria stattfinden. Der 77-jährige Muhammadu Buhari erklärte dieses Jahr in einer Neujahrsbotschaft, keine dritte Amtsperiode anstreben zu wollen. Viele Argumente in eigener Sache hätte er nicht: Laut der „World Poverty Clock“ befinden sich 2020 105 Millionen Nigerianer*innen in extremer Armut, 51 Prozent der Gesamtbevölkerung (2016 waren es 45 Prozent). Nigeria wurde zum globalen Zentrum der Armut, trotz des robusten Wirtschaftswachstums in der Prä-Corona-Phase. Die Situation am Arbeitsmarkt war schon vor Corona dramatisch, Leidtragende sind vor allem die Jungen: 30 Prozent der Nigerianer*innen zwischen 25 und 34 sind gegenwärtig ohne Job.

Im Umgang mit dieser Gruppe wirkt Buhari oft arrogant und lebensfern. 2018 zog er sich beispielsweise nach der Aussage „More than 60 percent of the population is below 30, a lot of them haven’t been to school and they are claiming that Nigeria is an oil producing country, therefore, they should sit and do nothing, and get housing, healthcare, education free“ bei einer Commonwealth-Konferenz in London den Unmut junger Nigerianer*innen zu. Allerdings scheint er nicht nur zur Jugend keinen Draht zu haben, wie eine Reihe zweifelhafter Aktionen in den vergangenen Monaten zeigt.

Für viele Nigerianer*innen war es etwa unverständlich, dass der Präsident inmitten der Corona-Pandemie im Juli 2020 für eine Konferenz in die malische Hauptstadt Bamako reiste. Auch bei seinen Stellungnahmen zu den #EndSARS-Protesten machte er einen unbeholfenen Eindruck. Dass er sich zu den Toten von Lekki mit keinem Wort äußerte, hielten nicht wenige für skandalös. Die Erklärung seines Medien-Beraters Femi Adesina, der Präsident hätte sich nicht zu Lekki geäußert, da der Vorfall momentan noch untersucht werde, sorgte nicht für Beruhigung. Die Erinnerung an ein zuvor geleaktes Video war noch frisch: Buhari ist darin zu sehen, wie er lacht, nachdem der Gouverneur des Lagos State, Babajide Sanwo-Olu, über die Kompensation der Opfer von Polizeigewalt spricht.

Es ist ein weiteres Kapitel in der nigerianischen Tragödie, dass Demonstrationen gegen Polizeigewalt mit Polizeigewalt niedergeschlagen werden. 69 Personen sind laut Regierungsangaben bislang bei den Protesten gestorben. Auch Videos von Schlägern, die behaupten, von der Regierung bezahlt worden zu sein, um unter den Demonstrant*innen Unruhe zu stiften, stärken nicht das Vertrauen in die politische Führung.

In Lagos nahmen die Proteste nach dem Massaker von Lekki ab, in anderen Landesteilen gehen sie unverändert weiter. Finanzministerin Zainab Ahmed kündigte die Errichtung eines Jugendfonds an, der allerdings wie eine weitere Schnellschuss-Aktion anmutet, um die Dynamik der Bewegung zu bremsen. Muhammadu Buhari muss aufpassen, dass sich die Parole #EndSARS nicht zu #EndBuhari wandelt und er nicht früher als gedacht in politische Rente gehen muss. Denn Buhari wird wissen: Was mit einem Video begann, kann mit einem Systemwechsel enden.