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Viel Tiefgang, wenig Fokus: BROCKHAMPTON mit „iridescence“ // Review

Viel Tiefgang, wenig Fokus: BROCKHAMPTON mit „iridescence“ // Review

(Question Everything/RCA Records/VÖ: 21.09.2018)

Über weite Strecken liest sich die Geschichte von BROCKHAMPTON wie ein modernes Märchen. Alles begann mit einem unscheinbaren, aber folgenschweren Posting zwecks Bildung einer Band, abgesetzt im Kanye-West-Fanforum „KanyeLive“ (heute „KanyeToThe“). Zeitnah formierte sich in der Welt der Threads eine höchst diverse Gruppe aus Rappern, Sängern, Grafikern, Fotografen und Produzenten, die sich durch ihre mehrschichtige Heterogenität rasch als Boyband begriff. Nur zu Beginn ohne Boyband-typisches Major-Label oder listigen Manager als Strippenzieher im Background. Diese Rolle nimmt seit den Anfangstagen am ehesten Bandleader Kevin Abstract ein, der auch genanntes Posting 2012 im Internet platzierte.

Zunächst noch unter ALIVESINCEFOREVER kaum beachtet, stieg die Popularität nach dem 2015er-Rebranding als BROCKHAMPTON sukzessive an. Der vorläufige Höhepunkt ereignete sich im Schicksalsjahr 2017, als BROCKHAMPTON mit der „SATURATION“-Reihe, bestehend aus drei formidablen Alben innerhalb eines Jahres, für Furore sorgten. BROCKHAMTPON avancierten zu einer Sensation aus dem Internet, die innerhalb weniger Monate in Sphären fernab von reddit und nerdigen Internetforen diskutiert wurde. „SATURATION“ weckte auch das Interesse der Industrie, Sonys RCA Records machte das Rennen und schloss mit dem Ensemble aus über einem Dutzend Kreativen einen Plattendeal im Wert von über 15 Millionen Dollar, für sechs Alben über drei Jahre, ab. Eine imposante Summe und Indikator dafür, dass RCA Records hinsichtlich der kommerziellen Power ihres neuen Signings sehr überzeugt ist.

Mit „iridescence“ erfüllen BROCKHAMPTON nun den ersten Teil des Deals, der sich jedoch als äußerst schwierige Geburt darstellte. Dem Märchen um BROCKHAMPTON mangelte es in den vergangenen Monaten nämlich keineswegs an Schattenseiten. Vielmehr stand gar das Fortwirken der Gruppe auf der Kippe. Entpuppte sich Kevin Abstracts Ankündigung, dass nach „SATURATION III“ Schluss mit der Band sei, lediglich als leeres Gerede, war die Affäre um Ameer Vann, der sich infolge der „SATURATION“-Reihe als besonders versierter Rapper herauskristallisierte, weitaus einschneidender. Gegen ihn wurden Missbrauchsvorwürfe laut, die er zum Teil bestätigte. Die Band zog die Konsequenzen und warf Vann raus.

Danach war unklarer denn je, ob das angekündige Major-Debüt „PUPPY“, das zunächst den Namen „TEAM EFFORT“ tragen sollte, überhaupt noch erscheint, da durch das Canceln der Tour weitere dunkle Wolken über BROCKHAMPTON aufzogen. Erst ein Auftritt bei Jimmy Fallon beruhigte die Gemüter. BROCKHAMPTON leben. Und der in der Show vorgestellte Track „TONYA“, einhergehend mit der Ankündigung des neuen Werks „the best of our lives“, brachte das erleichternde Gefühl, dass die ganzen Querelen keine Auswirkung auf die Vitalität der Gruppe hatten. Nach „TONYA“ setzten BROCKHAMTPON mit überwiegend von Filmen inspirierten Video-Singles fort, die trotz hoher Qualität bis auf die letzte Video-Single „J’OUVERT“ (mit einem Sample des Soca-Tracks „Doh Blame Meh“ vom grenadinischen Künstler Lavaman) nicht den Cut für „iridescence“ schafften. Möglicherweise sind diese für einen anderen Release bestimmt. „iridescence“ läutet schließlich eine neue Trilogie ein, die den Namen „the best of our lives“ trägt. So, wie eigentlich „iridescence“ heißen sollte.

Also ein hohes Maß an Verwirrung und Irritation, die um BROCKHAMPTON im Vorfeld zu „iridescence“ rankte. Wenig überraschend daher, dass sich dieses Gefühl auf das Album überträgt und musikalisch mit einem bunten Sound-Wirrwarr seine Fortsetzung findet. „iridescence“ ist ein Ort, wo energetische Tracks wie der Urknall-Opener „NEW ORLEANS“ (inklusive Jaden-Smith-Assistenz), „BERLIN“ oder „WHERE THE CASH AT“ Hand in Hand mit Feuerzeug/Handydisplay-in-die-Luft-Momenten der Marke „SAN MARCOS“, „SOMETHING ABOUT HIM“ oder „WEIGHT“ gehen.

Die Übergänge sind dabei nahtlos gehalten und nicht vorhersehbar, Industrial-HipHop-Instrumentals wie „BERLIN“ wechseln sich plötzlich mit Indie, Folk oder R’n’B-Elementen ab, auf dem Beyoncé gesampelten „HONEY“ geschieht der abrupte Stilwechsel gar in einem Song. Auffallend das Schielen in Richtung Großbritannien, das sich in Drum’n’Bass der Goldie-Machart auf „WEIGHT“ oder diversen Grime und TripHop-Anleihen, die sich durch das Album ziehen, manifestiert. Eine Folge davon, dass große Teile des Albums neben dem standardmäßigen Studio auf Hawaii in den legendären Londoner Abbey Roads Studios aufgenommen wurden. Das heftige Hin und Her, diese Soundüberflutung kann jedoch rasch ermüdend wirken und die speziellen Songs im musikalischen Dickicht erdrücken. Eine Gefahr, der „iriedescence“ gerade noch ausweicht.

Den Stempel der großen Songs tragen vor allem „WEIGHT“ und „SAN MARCOS“, die nicht nur in musikalischer Hinsicht punkten. Deren volle Stärke liegt im Inhalt. Dass BROCKHAMPTON neben handelsüblichem Geprotze und humoristischen Einlagen in ihrer Musik sehr ernste Themen sehr direkt ansprechen, ist seit den „SATURATION“-Alben bekannt. Auf „iridescence“ bleiben sie dieser Tonalität treu. Wie sensitiv Kevin Abstract in „WEIGHT“ die Realisierung seiner Homosexualität, also ein höchst persönliches Thema, thematisiert („And every time she took her bra off my dick would get soft/I thought I had a problem, kept my head inside a pillow screaming“), verdient das Prädikat wertvoll.

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Ähnlich ergreifend Jobas Part über Suizidgedanken auf der sanften, von einer Gitarre getragenen Ballade „SAN MARCOS“; ein Song, der mit dem berührenden Outro „I want more out of life than this/I want more, I want more“, gesungen vom London Gospel Community Choir,  hart auf die Tränendrüse drückt – und man plötzlich das Verlangen verspürt, jemanden umarmen zu wollen. Große Kunst und genau einer dieser Momente, die BROCKHAMPTON so besonders machen.

Obwohl ihnen die Durchdreh-Tracks ebenfalls außerordentlich gut liegen: Brillanz entfaltet die Gruppe erst, wenn der Themenkreis auf zutiefst persönliche Inhalte abzielt und „Mental Health“-Anliegen in den Blickpunkt geraten. Neben Leader Kevin Abstract ist es Dom McLennon, der „iriedescence“ dank herausragender Parts seinen Stempel aufdrückt (obwohl er nur wenige Tage mit den Kollegen im Studio verbrachte) und einen großen Teil dazu beiträgt, dass die Frage nach dem Verbleib von Ameer Vann beim Hören des Albums gar nicht aufkommt. Diese Lücke konnte geschlossen werden, und zwar überraschend problemlos. Darin liegt nicht zuletzt ein wesentlicher Grund, warum „iridescence“ in vielerlei Hinsicht überzeugend ausfällt.

Fazit: Langweilig klingt auf jeden Fall anders, auf „iridescence“ bieten BROCKHAMTON hinsichtlich Sound und Themenstellung viel, insgesamt fast zu viel, ein roter Faden, der all die Inhalte verbindet, fehlt. Aber das ist zugleich der einzige Makel, liefern die Songs für sich genommen keinen Stoff für Kritik. „iridescence“ enthält die erhofften großen Momente, die in erster Linie auf den oft mitreißenden Texten beruhen, die Kevin Abstract und Kollegen hier vorlegen. So, wie man sich das von der gegenwärtig besten Boyband der Welt erwarten darf. Und zur Sache mit dem modernen Märchen gehört auch noch der Umstand, dass „iridescence“ mit über 100.000 verkauften Einheiten auf Platz 1 der US-Charts debütierte. Fortsetzung folgt, wenngleich man bei BROCKHAMPTON mit Prognosen vorsichtig sein soll.  

4 von 5 Ananas