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Ibeyi und der „einsamste Baum der Welt“: „Transmission/Michaelion“ // Video

Ibeyi und der „einsamste Baum der Welt“: „Transmission/Michaelion“ // Video

Bei den kosmopolitischen, singenden Zwillingsschwestern von Ibeyi jährt sich im September der Release ihres zweiten Longplayers „Ash“, ein Album, das dank einer spirituellen Sogwirkung und eines geglückten Umgangs mit politischen Themen (beispielsweise auf „No Man is Big Enough for My Arms“ mit Michelle-Obama-Sprachsample) für positive Schlagzeilen sorgte. Mit „Away Away“, „Deathless“ und „Me Voy“ wurden bislang drei Nummern aus „Ash“ mit künstlerisch ansprechenden Videos versehen. Dass in dieser Aufzählung ein wesentliches Werk fehlt, dem dürften sich auch Ibeyi bewusst gewesen zu sein. Weswegen jetzt ein Video zu „Transmission/Michaelion“ erscheint.

„Transmission/Michaelion“ ist schließlich nicht irgendein beliebiger Track aus „Ash“, sondern das Herzstück. Der Baumstamm, um den sich die restlichen Songs wie Äste angeordnet gruppieren und der daher passenderweise in der Mitte des Albums angesetzt ist. Thematisch liefern Lisa-Kaindé und Naomi Diaz in „Transmission/Michelion“, unterstützt von dezenter Piano-Begleitung, ein Plädoyer für die Expression von Gefühlen, die nicht versteckt, sondern offen kommuniziert werden sollen. Dabei gehen sie mit positivem Beispiel voran, wie Lisa-Kaindé Diaz vergangenes Jahr in einem Interview mit Stereogum erklärte: We believe in transmission. We believe in saying to people this is how I felt, this is me (…) Making songs when we were teenagers, we never thought we would sing them in public but it was just a way to tell [people] how I felt.“

Als Features treten auf „Transmission/Michaelion“ die Bassistin Meshell Ndegeocello und der IDMC Gospel Choir in Erscheinung, gesampelt wird eine Passage aus dem Hörbuch zu Claudia Rankines kraftvollem 2014er-Langgedicht „Citizen: An American Lyric“, das sich mit der Auswirkung von Rassismus auf die Betroffenen in den Vereinigten Staaten auseinandersetzt, sowie ein Exzerpt aus dem Tagebuch der großen mexikanischen Surrealistin Frida Kahlo, vorgetragen von Maya Dagnino, der Mutter von Lisa-Kaindé und Naomi.

Das dazugehörige, von Jamie-James Medina und Fons Schiedon gedrehte Video erzählt die bewegende Geschichte des „Arbre du Ténéré“, auch bekannt als der „einsamste Baum der Welt“, der als letzter einer Gruppe von Schirmakazien das harte Klima in der nigrischen Ténéré-Wüste überstand – und damit als einziger Baum in einem Umkreis von 400 Kilometern existierte. Überleben konnte der Baum, da seine Wurzeln den Grundwasserspiegel in einer Tiefe von 33 bis 36 Metern erreichten. Die Tuareg-Nomaden in dieser Region sahen die drei Meter hohe, Y-förmige Akazie als heilig, als ein Tabu an.

Aber nicht nur: Viele Karawanenführer hatten nach Erzählungen, die dem Schweizer Reiseschriftsteller René Gardi von einem Mitreisenden überliefert wurden, regelrecht Angst vor dem Baum. Er diente so als Quell allerlei mystischer Geschehnisse. Geschichten von unheimlichen Stimmen und Gebrüll von Kamelen, die nächtlich an dieser Stelle plötzlich losbrachen, hielten viele von einer Nächtigung unter der Akazie ab. Die befände sich, so die Erklärung, auf dem Grab eines Marabut, eines muslimischen Heiligen. Seine Zweige wurden deswegen nicht als Feuerholz für die Teezubereitung abgeschnitten, zudem hielten die Kamele seltsamerweise von den Blättern des Baumes Abstand.

So überdauerte der „Arbre du Ténéré“ bis in die 70er-Jahre hinein, als Fahrer der Citroën-Wüstenrallye „Raid Afrique 1973“ die traurige Entdeckung eines zerstörten Ténéré-Baum machten. Für dessen Ende gibt es zwei Versionen: Eine besagt, dass ein betrunkener Kraftwagenfahrer sein stählernes Monstrum gegen den hilflosen Baum, den einzigen Baum weit und breit, lenkte. Eine andere, vertreten vom vorhin genannten René Gardi, spricht den Menschen von der Schuld frei, soll laut den Ausführungen in seinem Buch „Tenere“ (1978) ein Sturm dem Baum ein Ende bereitet haben.

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Die Bevölkerung im Niger trauerte um seinen sagenumwobenen Leuchtturm in der Wüste, dessen Überreste seither in einem eigens errichten Mausoleum im Hof des Nationalmuseums in der Hauptstadt Niamey lagern. An der Stelle des „einsamsten Baums“ ragt heute eine Metallstangen-Skulptur in die Höhe. Mittlerweile dient der Ort wieder als Lagerplatz. Seinen Schrecken hat er verloren, seinen Charme aber auch. Also zusammenfassend eine sehr erzählenswerte Geschichte über das Verhältnis Mensch und Natur, die im Video zu „Transmission/Michaelion“ verbreitet wird.

Als neuen Track veröffentlichten Ibeyi im Juni die Video-Single „Hacia El Amor“, eine Kollaboration mit dem brasilianischen Rapper Emicida: