"The hardest thing to do is something that is close…
Viele brasilianische Kunstschaffende blicken momentan in eine unsichere, düstere Zukunft. Der Grund dafür lautet Jair Bolsonaro, die leibhaftige Verkörperung eines enormen Rechtsrucks in der Gesellschaft des größten Landes Südamerikas. Im Oktober setzte sich der ehemalige Fallschirmspringerhauptmann in der Stichwahl für das Amt des Präsidenten gegen den Kandidaten der Arbeiterpartei, Fernando Haddad, durch. Ab dem 01. Januar wird er das höchste Amt im Staat ausüben.
Bolsonaro, dessen Wahlkampf von Federico Finchelstein in einem Artikel für Foreign Policy als „a mix of racism, misogyny, and extreme law and order positions“ charakterisiert und sein Politikmodell in eine Reihe mit Hitler gestellt wird, kündigte einen „Kulturwandel“ an. So sollen das Kulturministerium und das Rouanet-Gesetz, welches einer Firma Steuernachlässe bei einer Förderung kultureller Projekte anbietet, gestrichen werden. Unter Bolsonaro sollen nur noch jene Künstler eine Förderung erhalten, die den Werten der Bolsonaro-Bewegung entsprechen.
Die vergangenen Wochen und Monate zeigten, welche Szenarien vielen Kunstschaffenden, deren Kunst nicht im Einklang mit diesem Wertekodex steht, blühen. Der Musiker, Capoiera-Meister und Unterstützer von Fernando Haddad, Moa do Katendê, wurde von einem Bolsonaro-Unterstützer vor wenigen Wochen in einer Bar in Salvador erstochen, der mittlerweile nach Paris ausgewanderte Performancekünstler Wagner Schwartz aufgrund seiner Performance von „La Bête“ mit dem Tode bedroht, die transsexuelle Sängerin Julyanna Barbosa in Nova Iguaça attackiert. „These trash people have to die“, schrien ihr die Angreifer, die sich lautstark als Anhänger von Bolsonaro deklarierten, entgegen.
387 Mitglieder der LGBTQ-Community wurden 2017 ermordet
Obwohl er, wie im Fall von Moa do Katendê, jegliche Schuld von sich weist: Diese von Feindseligkeit gekennzeichnete Stimmung ist ein Resultat der Sprache von Jair Bolsonaro, die analog zu Victor Klemperer wie Arsendosen wirkt und in den vergangenen Jahren in regelmäßigen Abständen auf Homosexuelle abzielte. 2002 meinte Bolsonaro, dass er zwei Männer, die sich küssen, auf der Straße verprügeln würde, 2011 sprach er davon, einen toten Sohn einen homosexuellen vorzuziehen, und 2013 machte er die Aussage, dass Brasilianer einfach keine Homosexuellen mögen würden. „Obviously, we’re afraid“, so Toni Reis, Generalsekretär der „ABGLT“, Brasiliens größter Lesben-, Schwulen- und Transgenderorganisation. Bei Worten bleibt es nämlich nicht: 2017 wurden laut der Organisation „Grupo Gay da Bahia“ 387 Mitglieder der LGBTQ-Community infolge von Hassverbrechen ermordet, 58 verübten Suizid. Ein neuer Höchststand.
Der sich nur für ein Jahr halten könnte, belief sich die Zahl der Morde für das Jahr 2018 schon Anfang Oktober auf 300. Und das in einem Staat, in dem die größte LGBT-Pride-Parade der Welt stattfindet, in dem die gleichgeschlechtliche Ehe seit 2013 legal, die Adoption von Kindern für gleichgeschlechtliche Paare seit 2010 möglich und nach Ergebnissen von „Datafolha“ die Akzeptanz gegenüber Homosexualität in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Es sind auch diese Widersprüche, die das Brasilien der Gegenwart kennzeichnen.
Kunst als Widerstand
Als Mittel der LGBTQ-Community gegen die Politik des künftigen Präsidenten und der vergifteten Stimmung in der Gesellschaft dient die Kunst, vor allem die Musik. Neben der Pop-Sängerin/Drag-Queen Pabllo Vittar, die zu einem Symbol des Widerstands avancierte, sticht die Band Liniker e os Caramelows in diesem Kontext als besonders bedeutsam heraus.
Liniker e os Caramelows, auf Deutsch „Liniker und die Bonbons“, zeigen sich in ihrer Musik sozialkritisch und scheuen nicht den Aktionismus. Im Mai spielten sie in São Paulo auf einer Protestkundgebung gegen die neuen Arbeitsgesetze und die Inhaftierung des populären ehemaligen Präsidenten und Gründungsmitglied der Arbeiterpartei, Luiz Inácio Lula da Silva. Der Ruf nach „Freiheit für Lula“ wird auch auf den Konzerten der Band, selbst auf jenen in Europa, stets lautstark skandiert. Angeführt wird Liniker e os Caramelos von der charismatischen Frontfrau Liniker Barros, dem ersten transsexuellen Musikstar Brasiliens. Ihre Message trug die Band kürzlich auch im NPR-Format „Tiny Desk“ vor; und man muss die amerikanische Medienorganisation loben, dass sie gerade in diesen Zeiten der Band diese Plattform geboten hat.
Die Liniker e os Caramelows nutzten und einen mitreißenden Auftritt hinlegten. Stilistisch bewegt sich die Band zwischen R&B, Jazz, brasilianischem Soul und der „Música Popular Brasilera“, zwecks Vorbilder fallen bei Liniker Barros die Namen Etta James und Elza Soares. Diese Einflüsse sind auch auf den Tracks „Calmô“, „Tua“ und „Remonta“, die Liniker e os Caramelows für „Tiny Desk“ performten, nicht zu überhören.
„Tua“ und „Remonta“ entstammen dem 2016er-Album „Remonta“, „Calmô“ wurde dieses Jahr als Single veröffentlicht. Herausragend die Tracks „Tua“ mit einem spektakulären Breakdown inklusive Saxofon-Solo und „Remonta“, auf dem die Band ihren ganzen Facettenreichtum zeigt, der auch Anleihen vom äthiopischen Jazz-Großmeister Mulatu Astatke und der perkussiven Rhythmik des Candomblé umfasst. Letzteres dürfte auch nicht in Bolsonaros Wertekompass passen, nahm der kommende Staatspräsident, der seinen Erfolg zu großen Teilen evangelikalischen Fundamentalisten verdankt, im Wahlkampf die Anhänger der afrobrasilianischen Religion von seinen Hasstiraden nicht aus.
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