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Ethio-Jazz war seine Idee: Mulatu Astatke

Ethio-Jazz war seine Idee: Mulatu Astatke

Mulatu Astatke
Mulatu Astatke auf dem Cover der Compilation „New York—Addis—London“, 2009)

Eigentlich sollte Mulatu Astatke in Großbritannien das Handwerk eines Flugzeugingenieurs lernen. Doch das technische Studium spielte schnell die zweite Geige, Mulatu Astatke entdeckte die Musik für sich. Während zunächst noch die Klassik im Vordergrund stand, wandte sich der junge Äthiopier in den 60er-Jahren dem Jazz zu — und wurde der erste afrikanische Student am renommierten Berklee College of Music in Boston. Bei seiner Rückkehr nach Äthiopien fügte Mulatu Astatke die unterschiedlichen Einflüsse zu einem neuen Sub-Genre zusammen: Ethio-Jazz.

2010 veröffentlichte Nas „Distant Relatives“ – ein ambitioniertes Kollabo-Album mit Reggae-Künstler Damian Marley. Dabei legten die beiden den textlichen und musikalischen Fokus auf Afrika, wie auch die Sample-Auswahl zeigt. Für die erste Single „As We Enter“ griff Produzent Damian Marley auf den Track „Yegelle Tezeta“ von Mulatu Astatke zurück. Nicht zum ersten und letzten Mal fand der Äthiopier damit im Rap statt: Egal ob Sadat X, Killah Priest, Oh No, K’naan oder Freundeskreis, sie alle bezogen Samples aus dem breitgefächerten Repertoire Mulatu Astatkes. Fernab des Rap setzten sich Pretty Lights oder Nicolas Jaar kreativ mit Tracks des Ethio-Jazz-Pioniers auseinander. Und da wäre noch der Jim-Jarmusch-Streifen „Broken Flowers“ mit Bill Murray und Tilda Swinton, in dem diverse Titel von Mulatu Astatke prominent platziert sind. Ohne Übertreibung: Das Werk von Mulatu Astatke ist von musikhistorischer Bedeutung. Ein Urteil, das längst auch westliche Institutionen gefällt haben. Dabei plante der Künstler selbst eine andere Karriere.

Musikinstrumente statt Flugzeuge
Geboren wurde Mulatu Astatke 1943 im südwest-äthiopischen Jimma als Kind wohlhabender Eltern. Mit 16 Jahren schickten sie ihren Sohn zwecks Ausbildung zum Flugzeugingenieur nach Großbritannien. Dieser Plan verlief jedoch schnell im Sand, im entfernten Großbritannien rückte stattdessen die Musik immer stärker in den Vordergrund. Folgerichtig die Inskription am Trinity College of Music in London, wo Piano, Klarinette und Harmonieinstrumente als Mulatu Astatkes Forschungsobjekte dienten. Inspirationsquellen  für seine frühen musikalischen Kompositionen fand er in Ronnie Scott und Tubby Hayes. Vor allem die Saxophonkünste von Tubby Hayes wirkten sich nachhaltig auf die eigenen musikalischen Vorstellungen aus. Das Interesse an Jazz nahm zu, der Wohnortswechsel in das Epizentrum des Genres war die logische Folge.

Die Wahl zum Ort der musikalischen Weiterbildung fiel auf das renommierte Berklee College of Music in Boston, die einzige Jazz-Schule zu damaliger Zeit, wo er als erster Afrikaner studierte. Neben dem Studium des Vibraphones und der Perkussion galt die Aufmerksamkeit zunehmend lateinamerikanischen Rhythmen. Die Vision, afrikanische Musik und Latin-Jazz miteinander zu kombinieren, mündete in den Platten „Afro-Latin Soul, Volumes 1 & 2“, die Mulatu Astatke in seiner New Yorker Zeit veröffentlichte. Gegenüber der Red Bull Music Academy (RBMA) hob er die Gemeinsamkeiten zwischen lateinamerikanischer und afrikanischer Musik hervor, die ihm schließlich dazu bewogen, beide in einem Stil verschmelzen zu lassen. Um lateinamerikanische Rhythmen, die ursprünglich aus Westafrika stammten, mit afrikanischem Arrangement spielen zu können, vermischt Mulatu Astatke die „Fünf-Ton-Skala“ äthiopischer Musik mit der „Zwölf-Ton-Skala“ Lateinamerikas. Ein Experiment, das glückte:  „So what I did was to find ways to merge the five against twelve with nice chord progressions and voices. That’s how my music became successful, because it doesn’t lose the flavour of the five tones“.

Mit Hugh Masekela und Fela Kuti fand Mulatu Astatke in New York kreative Mitstreiter – mit der gleichen Idee, afrikanische Musik und modernen Jazz auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Mit unterschiedlichen Resultaten: Fela Kuti begründete in Nigeria den Afrobeat, Hugh Masekela kombinierte in Südafrika Jazz mit Musik der Kwela- und Mbaqanga und Mulatu Astatke arbeitete nach der Rückkehr an seiner Vorstellung des Ethio-Jazz.

Jazz in Zeiten der Revolution
Kaiser Haile Selassie war bei Rückkehr Mulatu Astatkes zwar weiterhin im Amt, sah sich aber großen innenpolitischen Problemen ausgesetzt, für die seine Politik mit dem Ziel der Zentralisierung und des Aufbau eines ethnisch einheitlichen Nationalstaates nicht unschuldig war. Letzteres führte zur „Amharisierung“ weiter Teile der Bevölkerung, auf die Rebellengruppierungen der Somali und Oromo mit Widerstandsaktionen antworteten. Im Norden des Landes uferten die Zentralisierungsbestrebungen Selassies zu einem Bürgerkrieg mit Eritrea aus, das 1962 in den äthiopischen Staat eingegliedert wurde.

Für die Entwicklung des Ethio-Jazz spielte Haile Selassie keine unwesentliche Rolle: Das Engagement des Armeniers Nerses Nalbandian am Nationaltheater war dem Wunsch Selassies nach einer Modernisierung äthiopischer Musik entsprungen; Nalbandian versuchte, die lokalen Rhythmen in einem Big-Band-Arrangement zu übersetzen. Damit wurde der Ausgangspunkt einer Entwicklung gesetzt, die sich im „Goldenen Zeitalter“ der äthiopischen Musik niederschlug. Die kreative Szene in Addis Ababa florierte und avancierte zum idealen Ort für Mulatu Astatkes Ethio-Jazz. Trotz Vorbehalte vieler Äthiopier gegenüber dem fremden Instrument des Vibraphons wurde Mulatu Astatte zu einer prägenden Figur der Kulturszene. 1973 trat er gemeinsam mit US-Jazz-Legende Duke Ellington auf. Ellington befand sich auf US-finanzierter Tour durch Zambia und Äthiopien (Jazz galt den Amerikanern als probates Mittel gegen den Kommunismus), beim Gig in Addis teilten sie sich die Bühne. Unter den Augen von Haile Selassie, dessen Regentschaft bald zu einem jähen Ende kommen sollte.

Die Ölkrise und eine verheerende Hungersnot führten zu landesweiten Protesten gegen die Regierung. Das Militär putschte sich in dieser Situation an die Macht und führte das System des  „Äthiopischen Sozialismus“ ein. Mit dem Versprechen einer Landreform, die vor allem von den Oromo begrüßt wurde, sicherte sich der „Derg“ (Amharisch für Militärkomitee) zunächst den Rückhalt der Bevölkerung. Äthiopien blieb aber weiterhin ein zentralisierter, amharisch-geprägter Staat mit unterdrückten Minderheiten. Ab 1977 setzte die Zeit des „Roten Terrors“ ein, Repressionen, Zensur und Gewalt vonseiten der Regierung Mengistu Haile Mariams prägten das gesellschaftliche Klima in Äthiopien.

Die Auswirkungen auf die kreative Szene waren drastisch, das kreative Leben zu einem abrupten Ende gekommen. Viele Musiker mussten das Land verlassen. Mulatu Astatke hingegen konnte seine Karriere, den Umständen entsprechend, fortsetzen: Seine Mitgliedschaft bei der „International Jazz Federation“ ermöglichte sogar Reisen ins Ausland. Warum die Zensur Mulatu Astatke nicht so stark wie andere Künstler betraf, hat einen weiteren Grund: Überwiegend verzichtete er in seiner Musik auf Texte, das Regime musste keine staatskritischen Zeilen befürchten. Mit dieser unpolitischen Haltung unterschied sich Mulatu Astatke von seinen afrikanischen Kollegen Kuti und Masekela, deren Musik ganz klar von sozialkritischen Tönen gekennzeichnet war.

Internationales Aufsehen
Einer internationale Karriere stand das „Derg“-Regime jedoch im Wege, Ende der 80er-Jahre war der Name Mulatu Astatke in den Jazz-Metropolen der Welt unbekannt geworden. Nach Ende des Regimes 1991 Geheimtipp von Musik-Nerds, brachte das französische Label Buda Musique den Ethio-Jazz-Pionier zurück auf die musikalische Landkarte. Produzent Francis Falceto nahm sich dem Werk Mulatu Astatkes an und legte diverse Platten von ihm und anderern Vertretern des goldenen äthiopischen Musikzeitalters neu auf. Mittlerweile existieren stolze 29 Ausgaben der Éthiopiques-Reihe. 2009 erfolgte die Veröffentlichung von „New York–Addis–London: The Story of Ethio Jazz 1965–1975“ über das britische Label Strut – eine konzise Zusammenschau von Stücken, die Mulatu Astatke an den titelgebenden Örtlichkeiten produzierte. Joe Tangari von Pitchfork resümierte in seiner Kritik über die Platte mit „Mulatu was a master craftsman and one of the most supremely inventive composers of a time when an awful lot of creative music was being made around the world“.

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Im gleichen Jahr folgte eine Zusammenarbeit mit der britischen Funk-Band The Heliocentrics, die nicht auf das Studio beschränkt war. So überzeugten sowohl die Platte „Inspiration Information“ als auch die gemeinsamen Europa-Auftritte – Mulatu Astatkes ersten seit 15 Jahren. 2012 und 2013 erschienen mit „Mulatu Steps Ahead“ und „Sketches of Ethiopia“ weitere Projekte, zuvor arbeitete er an der Havard University und am MIT an einer Modernisierung äthiopischer Musikinstrumente.

Seine Leidenschaft für die Musik hat Mulatu Astatkes nicht verloren, auch mit über 70 Jahren merkt man die Begeisterung für sein Werk aus jeder Note. Mit der Eröffnung einer Jazz-Schule in Addis Ababa, dem „African Jazz Village“, sorgt er sich selbst um die Weitergabe seines musikalischen Erbes. Ethio-Jazz soll schließlich in guten Händen behalten werden. Spät, aber doch wurden die große musikalischen Verdienste Mulatu Astatke in der westlichen Welt gewürdigt. Und selbst dem Falle, kein neuer Mulatu Astatke entspringt seiner Schule: Findige Produzenten werden seine Musik weitertragen. So viel scheint sicher.

Gerade  befindet sich Mulatu Astatke auf Europa-Tour — am 13. Februar gastiert er in Oslo, am 16. Februar in Lausanne.

Weiterführende Literatur:
—Born, Georgina/Hesmondhalgh, David (Hg.): Western Music and Its Others. Difference, Representation, and Appropriation in Music. Berkeley: University of California Press, 2000.
—Tarrósy, István/Szabó, Loránd/Hydén, Göran (Hg.): The African State in a Changing Global Context: Breakdowns and Transformations. Münster: LIT, 2011.
—Tenaille, Frank: Music Is the Weapon of the Future: Fifty Years of African Popular Music. Chicago: Lawrence Hill Books, 2002.
—Zitelmann, Thomas: Nation der Oromo: Kollektive Identitäten, nationale Konflikte, Wir-Gruppenbildungen. Berlin: Das arabische Buch, 1994.