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Michael Kiwanuka lässt seine Seele sprechen: „Love & Hate“ // Review

Michael Kiwanuka lässt seine Seele sprechen: „Love & Hate“ // Review

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(Polydor/VÖ: 15.07.2016)

Sorgenfreie Musik klingt anders: Soulsänger Michael Kiwanuka durchlebt auf seinem zweiten Album „Love & Hate“ über weite Strecken regelrechte seelische Torturen. Schmerzen, die allerdings schon oft Antrieb für denkwürdige Momente in der Popgeschichte waren – siehe Joy Divisions „Love Will Tear Us Apart“ oder bei Kanye West, der dem Ende seiner Liaison mit Alexis Phifer gar ein ganzes Album widmete („808s & Heartbreak“). Der Brite Michael Kiwanuka, Sohn ugandischer Eltern, die einst vor dem Idi-Amin-Regime nach Europa flohen, baut nun ebenfalls auf die Musik als Ventil zur Verarbeitung seiner Gefühlswelt. Wie seine Förderin Adele, die Kiwanuka in den vergangenen Monaten auf allen Social-Media-Kanälen ausgiebig pushte.

Ungekünstelte Dramatik, die Adele wohl nicht besser umsetzen könnte, bringt Soulsänger Kiwanuka gleich im epochalen, zehnminütigen, irgendwo zwischen Pink Floyd und 60er-Jahre-Soul angesiedelten Opener „Cold Little Heart“. Dabei stellt sich der Einstieg als Mikrokosmos von „Love & Hate“ dar, lässt dieser bereits die musikalische Bandbreite des Werks erahnen. Mit Backgroundsängern und Streichern wird Spannung erzeugt, bis Michael Kiwanuka nach einer Vorlaufzeit von vier Minuten mit „Did you ever want it?“ voller Schmerz in der Stimme einsetzt – und dann die Worte „Bleeding/I’m bleeding“ schmettert, womit der Track endgültig seinen uneingeschränkten Höhepunkt erreicht. Das mit einer Akustikgitarre ausklingende „Cold Little Heart“ erzeugt regelrechtes Staunen – und Zweifel. Zweifel, wie Kiwanuka nach diesem Beginn ohne Redundanz lyrisch und musikalisch fortsetzen soll.

Glücklicherweise präsentiert Kiwanuka aber im Anschluss nicht nur sein gebrochenes Herz, sondern stellt sich auch großen gesellschaftlichen Fragen. Das Afrobeat und Funk kombinierende „Black Man in a White World“ (schreit nach einem Remix mit Nas und Questlove) erweist sich als musikalische, an Frantz-Fanon-erinnernde Annäherung an den Themenkomplex der Identitätsfindung. Eine Fragestellung, die Kiwanuka auch auf den Tracks „Place I Belong“ und „Father’s Child“ thematisiert. Dennoch steht sein Herz klar im Mittelpunkt des Albums. Die Pink-Floyd-Reminiszenzen des Openers bietet auch der Titeltrack auf, der lyrisch zwischen Kiwanukas Gebrochenheit und gleichzeitigem Trotz („You can’t take me down“) pendelt und ein dreiminütiges, von einem E-Gitarren-Solo getragenes Outro aufbietet.

Wenngleich „Love & Hate“ überwiegend große Melancholie kennzeichnet, streut Kiwanuka Phasen von Optimismus ein: „One More Night“ erweckt Hoffnungen – die im nächsten Track „I’ll Never Love“ aber auf brachiale Weise zerstört werden. Mit Psychedelic-Soul wird in „The Final Frame“ der Schlusspunkt gesetzt, dank der Zeilen „Love’s been a strain, a strain in my heart/I’m numb to the feeling“ verpasst Michael Kiwanuka seinem Opus ein lyrisch passendes Ende.

Die Stärken von „Love & Hate“ sind vielfältiger Natur: Bei Michael Kiwanuka handelt es sich nicht nur um einen äußerst fähigen Sänger, dem es gelingt, mit diesem Album endgültig aus dem Schatten seiner großen Vorbilder zu treten (anders als auf dem Debüt „Home Again“), sondern auch um einen außerordentlich talentierten Songwriter. Befürchteten textlichen Wiederholungen geht Kiwanuka durch ausgefeilte lyrische Fertigkeiten aus dem Weg, Langeweile kommt zu keiner Sekunde auf.

Mit Danger Mouse und Paul Butler fand Kiwanuka zudem die richtigen, detailversessenen Produzenten, die seine musikalischen Ideen auf entsprechende Weise umsetzen konnten. Zwar ist „Love & Hate“ ein Soulalbum, die Einflüsse anderer Genres sind aber unstrittig. Das Album vermengt Ingredienzien von den Rolling Stones, von Pink Floyd und The Who mit 60er-Jahre-Soul und Folk. Michael Kiwanuka fühlt sich in mehreren Genres heimisch und ist mit Leib und Seele Musiker – dass er die Gitarren und den Bass jeweils selbst einspielte, ist nur ein weiterer, offensichtlicher Beweis für diese These.

See Also

It’s too late, to run away
The final frame will never know
Just float away, in our parade
Of love and pain, away we go, away we go
– Michael Kiwanuka, „The Final Frame“

Fazit: Die BBC rangierte Michael Kiwanuka 2012 auf Platz eins der Künstler, deren Durchbruch bald bevorstehen würde. Dabei verwies er unter anderem Frank Ocean auf die Plätze. Ob „Love & Hate“ der große kommerzielle Durchbruch abseits seines Heimatlandes bedeutet, ist noch unklar. Musikalisch steht Kiwanuka damit aber zweifellos in der ersten Reihe bei den Anwärtern auf das „Album des Jahres“. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Kiwanukas Trennungsschmerz nicht solche Wellen schlagen wie einst bei Joy Division oder Kanye West. Dass er dem Jahr 2016 mit „Love & Hate“ seinen musikalischen Stempel aufdrückt, steht aber außer Frage.

4,5 von 5 Ananas