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Verstand urlaubsreif, Herz stubenrein: Pyrin mit „Godot“ // Review

Verstand urlaubsreif, Herz stubenrein: Pyrin mit „Godot“ // Review

Pyrin
Pyrin
Cover & Beitragsfoto: Isabella Lesniak | VÖ: 28.03.2020

Liebhabern verkopften Sprechgesangs ist Pyrin womöglich schon seit Jahren ein Geheimtipp. Mit seinem neuen Album „Godot“ scheint er es nun aber endgültig wissen zu wollen. Das Release wirkt wie ein weiterer Schritt in Sachen Professionalisierung: Die Produktionen sind bombastisch, die Themen groß gewählt. Stilistisch bleibt er sich dabei dennoch treu. Und Easy-Listening-Berieselung bedeutet das alles schon gar nicht.

Auf „Godot“ nimmt Pyrin den Hörer mit in eine ganz eigene Welt. „Was, wenn ich Godot bin und keiner auf mich wartet?“, schallt es einem auf dem Titeltrack entgegen. Während es in Samuel Becketts „Warten auf Godot“ noch um das vergebliche Hoffen auf Gott oder einen höheren Sinn ging, wird bei Pyrin kurzerhand das Individuum selbst zu diesem ersehnten Absoluten, das eigene Innenleben zu einem Universum für sich. Nur was, wenn sich dafür überhaupt niemand zu interessieren scheint? Wenn sich der Außenwelt dieses Universum im Inneren nie wirklich mitteilen lässt? Und überhaupt: welche Außenwelt? Im Spannungsfeld dieser Fragen, bewegen sich die Themen des Albums: Das Individuum und sein Innenleben zugleich als Alles und Nichts, der Einzelne im selben Augenblick ein Gott und ein Niemand. Wie ein Vexierbild steht diese Ambivalenz über allem. Zwischen Traum und kein Traum, verrückt und nicht verrückt liegt nur ein Blinzeln, nur ein plötzlicher Wechsel in der Perspektive. Und auch auf sprachlicher Ebene durchzieht diese Struktur das Album, seine Kippbilder und Paradoxa, seine Sätze, deren Beginn und Ende sich plötzlich zu verschieben beginnen, und die vielen von Klammern in der Schwebe gehaltenen Verneinungen: Ceci n’est pas un Pyrin.

Gerade diese ungesunde sprachliche Übersteigerung und zerebrale Überreiztheit entwickelt dabei eine eigentümliche Sogkraft: Gedankengebäude werden entworfen und fallen wieder in sich zusammen, entpuppen sich als Luftschlösser oder öffnen ihre Kellertüren. „Godot“ führt den Hörer durch psychotische Gleichungssysteme und Gedankenketten von ausgesprochener Schönheit, und fühlt sich dabei selbst an wie ein Anrennen gegen die Grenzen der Sprache und des eigenen Kopfes. Selten hat wohl jemand seine Gefühlswelt so exakt vermessen wie Pyrin auf dem Titeltrack des Albums:

„Ich fühl mich nicht so ganz ganz/
eher so halb ganz, halb halb halb, halb ganz/
und manchmal eher halb halb,/
halb halb halb, halb ganz ganz/
– genau.“

„Godot“

Genau. Musik um sich ein paar Knoten ins Gehirn zu machen. Nur wird sich das zur Welt aufgeblähte Individuum dabei schließlich selbst unheimlich. Wo die Grenzen der eigenen Sprache die Grenzen der eigenen Welt sind, fühlt es sich seiner Sprache und seinen Gedanken samt all ihren Kapriolen und Verrücktheiten hilflos ausgeliefert: „Hoff ich bin nicht, was ich denke – Wittgensteins Enkel“. So führt Pyrin durch solipsistische (Alp-)Traumlandschaften, auf der verzweifelten Suche nach einem anderen Menschen oder doch wenigstens sich selbst. Das klingt alles reichlich abstrakt und um sich selbst kreisend, wird aber zur Ausdrucksform für Probleme, die uns letztlich alle beschäftigen. Für Fragen nach der Fragilität des Individuums, seiner Vergänglichkeit, seinem Untergehen in der Masse (erst recht nach dem eigenen Tod), in dessen Angesicht die eigenen Erlebnisse und Gedanken verschwindend unbedeutend werden. Dafür, nicht fassen zu können, dass es mit diesem Ich, das einen doch so vieles erfahren lässt, das für sich eine Welt ist, am Ende doch weiter nichts sein soll. Für das Nachgrübeln über ungelebte Möglichkeiten und darüber, sich unverstanden zu fühlen. Und letztendlich für das, was heimlich aus alledem spricht: die Suche nach Identität.

Eine Identität, die – folgt man „Godot“ – verteilter und pluraler zu sein scheint, als man es sich eingesteht. Sie verbirgt sich in der eigenen Körperlichkeit („Reflux“), alternativen, ungelebten Möglichkeiten seiner selbst („Absentia“), dem Anblick des eigenen Vaters („Herz“) oder beobachteten Rollen und Gesten, die wir in unseren Beziehungen reproduzieren („Achteinhalb“), und wird zugleich von all diesen Seiten in Frage gestellt. Einzig eine immer wieder verhandelte Beziehung scheint zum Anker in diesem „Ozean, der man selbst ist“ zu werden und gibt dem ganzen bisweilen einen positiven Anstrich.

Und gerade wenn all das in ein klischeehaftes Zelebrieren der eigenen Verrücktheit, ein Zurschaustellen des eigenen Leidens, auszuarten droht, wird diese Selbstbespiegelung schließlich überraschend gebrochen und auf eine höhere Stufe gehoben.

„Jede Woche zähl ich bis sieben – und komm auf null/
zwischen Schweben und Fliegen bin ich stehen geblieben/
vielleicht versteig ich mich in fiktionale seelische Krisen/
vielleicht ist das nur meine Art mein Leben zu lieben“

„Untot“

„Jemand sollte mir mal sagen: ‚Halt die fresse und geh duschen/
im Endeffekt willst du doch nur schmusen/
strauchelst und taumelst durchs Leben wie ein versonnener Greis/
um irgendwie ums Verrecken was Besonderes zu sein“

„Niemand“

Vielleicht gibt es gerade eine verquere Lust an den Abwegen des eigenen Denkens. Am Liebäugeln mit dem Pathologischen, dem Überhöhen der eigenen Verschrobenheiten. Was auf theoretischer Ebene das Album durchzieht, wird hier auf die Füße gestellt: Letztlich geht es um das einfache Gefühl, unterzugehen in der schieren Masse von Individuen, von Innenwelten. Alles Andenken gegen dieses Gefühl, alle theoretischen Verrenkungen, sind auch nur Ausdruck eines banalen, grundmenschlichen Geltungsbedürfnisses. Die verhandelten Themen werden so auf höherer Stufe wiederholt und eingeholt. Das Höchste und das Banalste fallen am Ende in eins.

See Also

Fazit: „Godot“ als ‚verkopft‘ zu bezeichnen wäre wohl untertrieben. Aber auch wenn das für sich genommen nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal ist: Die Art wie Pyrin sprachlich mit Verneinungen, Modalitäten und kleinen, witzigen Bildern jongliert („zwischen Ex- und Implodieren – ich glaub ein Hund würde mir gut tun/ doch ich glaub am Ende würd ich nur vergessen ihn zu gießen“) macht dieses Album vor allem stilistisch zu einem beeindruckend eigenständigen Werk. Durch den Rätselcharakter der Tracks wird die dargestellte Suche nach sich selbst nicht zuletzt auch zu einer Suche für den Hörer, immer entlang reicher Verweisketten, die manchmal ins Nichts führen, manchmal in die Tiefe. Gerade von jenem subtilen Witz, der immer wieder aufblitzt, von den simplen, kleinen Bildern, die aber eben deshalb im Gedächtnis bleiben, hätte man sich dabei noch mehr gewünscht.

Auch musikalisch wurde sich hier etwas getraut. Die Instrumentals von Heitech, LUI und Bromm verweben HipHop-Drumstrukturen mit satten, elektronischen Basslines und immer wieder finden auch schwere, Metal-ähnliche Gitarrenriffs Verwendung. Was nach bemühtem Crossover klingen könnte, fügt sich erstaunlich natürlich zu einem Ganzen zusammen und sorgt damit für den gelungenen Mittelweg zwischen elektronischem und ‚organischem‘ Sound, der zum Vibe des Albums passt. Die einzelnen Tracks bleiben dabei musikalisch beeindruckend variabel und immer wieder von kleinen liebevollen Details durchzogen. Das Experimentell-‚Verschobene‘ des Albums wird so wunderbar untermalt (nicht zuletzt auch durch die Sirenengesänge der einzigen Features Belle und Jess).

Ein einziges Manko könnte man – musikalisch wie textlich – in jenem Pathos sehen, das stellenweise etwas überhandnimmt. Gerade wo sich das im Fall von „Niemand“ mit einem Video verbindet, das relativ dick aufträgt, wirkt das schnell überzogen. Von Zeit zu Zeit schlagen auch die Art der Selbstdarstellung und die schiere Masse an Referenzen etwas ins Prätentiöse um. Man fragt sich, ob es die klischeehafte Denkerpose wirklich bräuchte, der melancholische Blick in die Ferne unbedingt sein muss. Aber auch das betrifft am Ende wohl mehr Teile der Inszenierung, das zweitrangige Drumherum, als das Album selbst. Musikalisch und textlich liefert Pyrin mit „Godot“ nämlich ein Stück Musik, das eigene Wege geht, auf denen man sich auch nach mehrmaligem Hören immer wieder gern aufs Neue verliert, und das – auf positive Weise – Herz- und Kopfzerbrechen bereitet. Nie hat der Rundflug der Fliege im Fliegenglas so in seinen Bann gezogen.

4 von 5 Ananas

Text: Manuel Paß