"The hardest thing to do is something that is close…
Eigentlich hatte Mike Skinner sein musikalisches Buch namens The Streets schon zugeschlagen. Nach dem fünften The-Streets-Album „Computer and Blues“ (2011) war seiner Meinung nach alles gesagt. Falls ihm mit 40 das Geld ausginge, würde er möglicherweise das Projekt wiederbeleben, meinte er 2009. Aber über die Jahre deutete wenig darauf hin, dass er seinem abgeschlossenen Projekt neues Leben einhauchen müsste. Neue Beschäftigungsfelder hatte er schließlich auch gefunden: Seine kreative Ader stillte der zweifache Familienvater inzwischen mit DJ-Gigs beziehungsweise der Partyreihe TONGA, der sehenswerten VICE-Doku „Don’t Call It Road Rap“ und The D.O.T., einem Projekt mit Rob Harvey von The Music. The Streets schien keinen Platz mehr im Leben des Mike Skinner zu haben.
Das war eine Fehleinschätzung. Ab 2017 wagte er sich wieder an The Streets heran. Nicht aus finanziellen Gründen. Die Motivation kehrte schlichtweg zurück. Zunächst kündigte er Comeback-Shows an. Es folgten lose Singles und ein Feature-Beitrag für Chris Lorenzos „Late Checkout“ (2019). Die Überraschung über die Ankündigung eines neuen Releases hielt sich daher in Grenzen.
„None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive“, so der Titel, ist jedoch kein gewöhnlicher Release. Die Bündelung von 12 Tracks dient zugleich als Soundtrack des Musical-Films „The Darker The Shadow, The Brighter The Light“, Mike Skinners nächstem großen Projekt. Bei „None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive“ handelt es sich auch nicht um ein Album, sondern um ein Mixtape.
Im Gegensatz zu einem Album impliziert ein Mixtape ein gewisses Maß an Zwanglosigkeit und an Experimentierfreude, da sich darauf Material platzieren lässt, das nicht in das enge Korsett eines Albums passt. Diese Freiheit betrifft auch die Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen, ein Mixtape ist nicht selten eine Ansammlung von teils ungewöhnlichen Kollaborationen. Was man von einem Mixtape nicht erwarten darf, ist ein roter Faden. Mike Skinner hält sich auf „None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive“ mal mehr, mal weniger an diese Vorgaben.
Bühne für Rookies
Musikalisch und bei den Features hat sich Mike Skinner tatsächlich ausgetobt. „Call My Phone Thinking I’m Doing Nothing Better“ mit Hook von Tale Impala beinhaltet psychedelische Vibes, der Titeltrack mit der Punk-Band IDLES verzerrte Gitarren und „I Wish You Loved You As Much As You Love Him“ hat dank Greentea Peng einen souligen Anstrich. Grime, House und Drum and Bass (der Chris-Lorenzo-Track schließt das Mixtape ab) sind ebenso musikalische Bestandteile des Mixtapes wie die obligatorischen Garage-Tracks und eine Piano-Ballade, die Skinner mit „Falling Down“ aufbietet. Die Beats sind dabei durchgängig auf einem ordentlichen Niveau, sieht man von dem recht einfallslosen Lorenzo-Stampfer „Take Me As I Am“ ab.
Ein amtliches Niveau haben auch die Featuregäste, die zahlreich auf dem Mixtape vertreten sind. Im Line-up befinden sich überwiegend aufstrebende britische Künstler*innen wie Jimothy Lacoste („Same Direction“), Dapz on the Map („Phone Is Always In My Head“) oder Ms Banks („You Can’t Afford Me“). Unter den vielen guten Features hinterlässt vor allem Ms Banks einen bleibenden Eindruck, ist ihr Part mit Zeilen wie „Nah, I ain’t gonna ’low you, mate/Not even a little/I’m from M&S, babes/You got a better chance at Lidl’s, ah“ der beste des Mixtapes.
Platte Kalendersprüche
Mixtapeuntypisch hat sich Mike Skinner bemüht, einen inhaltlichen roten Faden in sein Werk zu bringen. Vieles auf „None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive“ dreht sich um das Leben mit dem Smartphone, der Zigarette des 21. Jahrhunderts. Neben etlichen Zeilen quer über dem Mixtape verstreut widmet Skinner dem Thema mit „Phone Is Always in My Hand“ sogar einen eigenen Track, in dem es in der Hook heißt „My phone is always in my hand/If you think I’m ignoring you, I am“. Eine gute Idee, die die Schwächen des Mixtapes aber nicht kaschieren kann.
Die liegen bei Skinner selbst. Eine der Problemzonen ist seine Vortragsweise auf dem Mixtape. Während seine rappenden Featuregäste federleicht über die Beats gleiten, wirkt Mike Skinner schwerfällig und unbeweglich. Ohne Featuregäste würde das gar nicht so auffallen, aber im direkten Vergleich mit einer Ms Banks oder einem Dapz on the Map ist das regelrecht schmerzhaft. Zudem gibt es lyrische Schwächen. Viel zu oft fehlt in Skinners Texten der typische, schelmische Witz oder die berührende Poesie – Qualitäten, denen er seine Reputation als Poet der britischen Arbeiterklasse verdankt.
Viel zu viele Zeilen wirken stattdessen nicht fertig gedacht oder sind ungemein stumpf: „Man, God has it backward, God has seen it all/But if God had’ve dropped acid, would God see people?“ auf „Eskimo Ice“ ist dafür ein Beispiel (einen Track im Jahr 2020 mit dem pejorativen Begriff „Eskimo“ zu benennen, Wiley-Referenz hin oder her, weist ebenfalls nur auf einen gewissen Starrsinn hin).
Diese Schwäche betrifft auch die nachdenklichen Zeilen, die zu oft in platten Kalendersprüchen wie „Falling down is an accident/Staying down is a choice“ („Falling Down“) resultieren. Der Unterschied zwischen dem Produzenten Mike Skinner und dem Rapper Mike Skinner ist auf „None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive“ gewaltig; so gewaltig, dass man sich wünscht, er hätte sich auf das Produzieren beschränkt. Eine Handvoll passabler Tracks bietet das Mixtape. Aber nicht wegen, sondern trotz Mike Skinner.
Fazit: Mike Skinner fügt mit dem Mixtape „None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive“ der Streets-Diskografie ein neues Kapitel hinzu. Einen großen Gefallen hat er sich damit nicht getan, reicht er mit seinen Leistungen auf dem Mixtape nur in Ansätzen an seine alten Glanzzeiten heran. Immerhin sorgen die Produktionen und die Features für manches Highlight. Zudem beweisen die Gäste, dass Mike Skinners Streets-Fackel auf würdige Weise weitergetragen wird. Mike Skinner braucht es deswegen 2020 gar nicht mehr, so hart es auch klingt.
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