Gerhard Stöger ist hauptberuflich Musikjournalist beim Falter und wohl der aufmerksamste mediale Beobachter des österreichischen Popgeschehens mit künstlerischem Anspruch. Während sich die Musikredaktionen anderer Qualitätsblätter des Landes diesbezüglich eher zurückhaltend verhalten, berichtet der gebürtige Kärntner seit Jahren über hörenswerte heimische Künstler – und das ohne Genre-Berührungsängste. So verwundert es auch nicht, dass Gerhard Stöger mit „Wienpop“ der Hauptinitiator der bisher wohl vollständigsten und interessantesten Darstellung der Wiener Popgeschichte ist. Zu dieser Buchveröffentlichung nimmt er nun auch im Interview mit The Message Stellung und macht sich seine Gedanken über den Mangel an fundierter österreichischer Popmusikberichterstattung. Er stimmt dabei zwar zu, dass Rap und HipHop in Österreich medial mit besonders großer Ignoranz bestraft werden, sieht den alleinigen Fehler aber nicht nur bei den Medien …
Interview: Jan Braula
TM: Was stand für dich in den vielen Erzählungen über die Wiener Popgeschichte im Vordergrund?
Gerhard Stöger: Ich wollte, dass die Entwicklung der Wiener Popkultur nachvollziehbar dargestellt wird. Dabei ging es nicht um Zahlen, Daten, Fakten, sondern darum, die Geschichte auch über Gschichtln zu erzählen. So, dass möglichst jeder einen Zugang dazu finden kann. Der zentrale Grundsatz bei der Arbeit war: „Wienpop“ sollte den Auskenner nicht unterfordern, gleichzeitig aber auch den Laien nicht überfordern. Also möglichst viel an Information reinpacken, aber möglichst verständlich aufbereiten. Der Hauptgrund für das Buch war, dass ich so etwas selbst schon immer lesen wollte. Irgendwann kam die Erkenntnis, dass man es eben selbst machen muss, wenn es sonst niemand macht. Ich bin Plattensammler, habe mir diesen Virus früh eingefangen und bin ihn auch nicht mehr losgeworden. Österreichische Popmusik ist ein Teil meines Sammlungsgebiets. Und ganz viel in diesem Bereich war bisher einfach nicht oder nur unzureichend dokumentiertes Geheimwissen. Im Rahmen unserer Wiener Popgeschichtsschreibung war es mir auch ein Anliegen, wichtigen Acts abseits des Austropop-Kanons sozusagen kleine Denkmäler zu errichten. Egal, ob es jetzt um eine Rockband wie Novak’s Kapelle geht, um Astaron, ein Underground-Duo aus den 80ern, oder die Moreaus, die zur Keimzelle der Wiener HipHop- und Elektronikszene werden sollten. Der Ansatz des Buches war, möglichst alles vorkommen zu lassen, was für die Entwicklung der Popmusik in Wien relevant war, ohne Trennung in die alten Kategorien Subkultur und Mainstream. Daher stehen Beatbands wie The Slaves oder Novak‘s Kapelle neben den zentralen Protagonisten des Austropop, also Ambros, Heller, Mendt und so weiter. Und Punkbands, die teilweise nur eine Single mit einigen hundert Stück Auflage rausgebracht haben, kommen neben Falco oder Kruder & Dorfmeister mit ihren Millionenverkäufen vor.
Worauf würdest du es zurückführen, dass viele Bands bisher nicht den Stellenwert in der österreichischen Musikgeschichtsschreibung bekommen haben, der ihnen zustehen würde?
Ich glaube, dass es in Österreich allgemein lange ein Manko an gehaltvoller Popgeschichtsschreibung gab. In letzter Zeit tut sich da aber eh einiges: Andreas Kump mit „Es muss geben“ über Linz, Al Bird Sputnik arbeitet seit Jahren an einem Buch namens „Schnitzelbeat“, das 2014 erscheinen wird und die Anfänge der österreichischen Popkultur noch einmal ganz neu schreiben wird, und Heinrich Deisl hat ein kulturwissenschaftliches Buch zum Thema veröffentlicht, dem noch zwei weitere folgen sollen. Die massenmediale Beschäftigung mit Popkultur war in Österreich aber immer ein bisschen ein Problem. Sie ist für gewöhnlich an den Begriff „Austropop“ gekoppelt, der aber sehr einengend ist. Pop im ORF-Fernsehen, das hieß jahrzehntelang Dolezal und Rossacher. Die haben in bestimmten Bereichen natürlich gute Arbeit geleistet, irgendwann aber den Anschluss an die Gegenwart verloren und sich dann eben umso intensiver an ihr Archiv geklammert. Was dann eben hieß: immer wieder Ambros, Fendrich, Danzer, Falco und Ostbahn Kurti – und Christl Stürmer, die irgendwann neu dazugekommen war. Ich will diese „Austropop“-Sache auf keinen Fall schlechtreden, das ist ein wesentlicher Bestandteil österreichischer Popkultur. Aber es ist eben nur ein Bestandteil, ein Ausschnitt. Und seit es im ORF keine Jugendsendungen wie „Okay“, „Ohne Maulkorb“ oder „X-Large“ mehr gibt, reduziert sich die Beschäftigung mit Pop eben auf diesen Ausschnitt. Dazu kommt, dass die Hochkultur in Österreich wahnsinnig dominant ist. Wenn man sich die Budgets anschaut, dann fließen im Musikbereich weit über 90 Prozent der staatlichen Fördermittel in die E-Musik, während für die Förderung der, wie wir wissen sehr lebendigen Popkultur, nur rund zwei Prozent übrig bleiben. Irgendwie scheint sich das auch auf die Berichterstattung auszuwirken.
Glaubst du, dass sich das irgendwann ändern könnte?
In Österreich ist es so Tradition, dass man vor allem das historische Erbe pflegt. Wenn vom Musikland die Rede ist, meint das für gewöhnlich, was einmal war und nicht, was heute ist oder morgen vielleicht sein wird. Etwas ganz Anderes, aber ebenfalls typisch Österreichisches, ist der fast schon perverse Umgang mit einer Figur wie Falco. Der hat durch seinen Tod ja nachhaltig an Popularität und Beliebtheit gewonnen. Davor war er Herrn und Frau Österreicher nicht ganz geheuer, weil er ein großmäuliger, arroganter Hund war, der es nicht so hatte mit der nationalen Kleingeistigkeit und Durchschnittlichkeit. Als Falco tot war, hat man ihn umgehend zu einer Art nationaler Ikone verklärt.
Joesi Propkopetz meint im Buch: „Ö3 hat ursprünglich das Seine dazu beigetragen, dass der Austropop der Austropop werden konnte (…)“. Wieso war österreichischer Pop damals auf Ö3 repräsentiert? Worauf würdest es zurückführen, dass das heute nicht mehr so ist? Hat das mit einzelnen Personen zu tun?
Nein, sondern mit einer großen Ängstlichkeit, die weit verbreitet ist. Ö3 ist ein Formatradio, das gewissen Gesetzmäßigkeiten folgt, und da ist es eben wahnsinnig schwierig, in die Rotation reinzukommen. Aber man kann das Ö3 von heute nicht mit dem Ö3 der frühen 70er vergleichen. Die Zeit war eine völlig andere, die Welt war eine völlig andere – und Ö3 war so etwas wie ein progressiver Sender. Man muss das Ö3 der Gegenwart aber auch nicht immer nur dissen. Dass sie den klassischen Austropop irgendwann rausgeschmissen haben, fand ich ja ganz richtig. Schade halt, dass sie sich mit aktuellem Pop aus Österreich so schwertun. Aber es gibt heute ja zum Glück FM4. FM4 ist für die österreichische Popmusik, was früher Ö3 war. Der Haken daran ist: Ö3 hat damals ganz Österreich zugehört, während FM4 in einer Nische stattfindet. Die Reichweite von FM4 beträgt ein paar Prozent, während Ö3 nach wie vor das ganze Land erreicht. Dinge, die groß auf FM4 sind und wo man sich denkt „Jetzt müsste eigentlich auch Ö3 drauf anspringen“, kommen dann aber nicht rein, weil sie dort einfach zu ängstlich sind beziehungsweise weil sie sich eben bedingungslos an ihr Format und den erprobten Musikmix ketten.
In der Einleitung schreibst du, dass es andere ähnlich angelegte Musikbücher gab, wie zum Beispiel „Es muss was geben“ aus Linz. Inwiefern war da auch Neid vorhanden?
Das war überhaupt kein Neid, sondern eher ein Ansporn. Wobei speziell das Linz-Buch auch eine Art Warnung war. Andreas Kump hat ja ewig daran gearbeitet, davor bin ich zurückgeschreckt. Den Gedanken hatte ich schon längst, so ein Buch zu machen, ich habe aber nicht früher angefangen, weil ich echt Angst vor so einem Kump-Marathon hatte. Im Endeffekt hat sich dieses Viererteam mit Florian Obkircher, Thomas Mießgang und Walter Gröbchen für die Umsetzung von „Wienpop“ gefunden. Es hat auch so noch lange genug gedauert, aber zu viert war es in zwei Jahren irgendwie zu stemmen.
Wie lange habt ihr für die Auswahl der Zitate gebraucht?
Die über 130 Interviews haben in einem Zeitraum von rund 15 Monaten stattgefunden. In meinem Fall war es so, dass ich mir für die Endphase der Manuskripterstellung zwei Wochen Urlaub genommen habe. Da hatte ich schon die ganzen Transkripte der rund 50 Gespräche vorliegen, die in meinem Teil Verwendung finden, das waren zwei dicke Bene-Ordner mit hunderten Seiten Rohtranskripten. In zwei Wochen mit 10- bis 14-stündigen Intensivarbeitstagen ist daraus dann die Rohfassung meines Kapitels entstanden, an dem dann noch eine Weile gefeilt wurde. Aber der Kern ist in diesen zwei Wochen entstanden, mit zwei Jahren Vorarbeit: Recherche, Interviews, Transkripte erstellen, immer wieder Besprechungen haben und sich Details untereinander ausstreiten …
In Österreich dürften Musikjournalisten, die sich professionell mit Popmusik auseinandersetzen können, rar gesät sein …
Ich bin immer wieder verwundert darüber, wie viel medial nicht vorkommt und dass das offenbar auch niemanden stört. Da lande ich wieder bei der Hochkultur. Jahr für Jahr wird über Wiener Festwochen, Salzburger Festspiele und Konsorten üppigst berichtet. Wenn man die journalistische Berichterstattung genauer mitverfolgt, sind das teilweise aber recht austauschbare Texte. Alleine dieses alljährliche Theater um den „Jedermann“, wo man sich schon auch fragen darf: ist das jetzt Fremdenverkehrswerbung, ist das Society-Berichterstattung oder geht es tatsächlich um Kultur mit irgendeinem Gegenwartsbezug? Trotzdem wird das Jahr für Jahr automatisch durchgeschaltet, während österreichische Popmusik vielfach kaum bis gar nicht präsent ist. Dazu kommt, dass in Österreich das Sprichwort zutrifft, wonach der Prophet im eigenen Land nichts zählt. Das beste Beispiel ist die Entwicklung der Wiener Elektronikszene, wo eigentlich alle über das Ausland groß geworden sind, die Techno-Schiene mit Cheap, Mainframe und Co., die Downbeat-Geschichte mit G-Stone, und die experimentelle Ecke mit Mego. Und da hat es eben Covergeschichten in Blättern wie „Wire“ gegeben, die ganzen Journalisten sind nach Wien gekommen, und irgendwann ist man dann auch hier aufgewacht. So nach dem Motto, wenn alle anderen darüber schreiben, müssen wir wohl auch etwas dazu machen. Typisch wienerisch. Zum Teil gibt es diese ausgeprägte Ignoranz immer noch, es gibt aber auch Medien wie The Gap, die inzwischen regelmäßig österreichische Sachen auf dem Cover haben und das durchaus auch einmal zu einem gewagten Zeitpunkt. Finde ich auch richtig, das so zu machen. Die ernsthafte, gehaltvolle und in berechtigen Fällen auch gerne einmal zur Euphorie neigende journalistische Auseinandersetzung ist ja ein zentraler Bestandteil einer funktionierenden Popkultur. Zuerst einmal braucht es die Musik. Dann die Bühne – Labels, Auftrittsorte, Clubs und so weiter, die Infrastruktur also. Und dann braucht eine funktionierende Popkultur noch die Rezeption. Einerseits vom Hörer, vom Fan, vom Publikum, andererseits aber auch professionell von Journalisten. Ich glaube, dass letzteres in Österreich lange Zeit tendenziell unterentwickelt war.
Inwiefern geht man als Musikjournalist, der professionell agieren kann, in der Selektion der Geschichten dann doch auch nach dem eigenen Geschmack? Wie ist das bei dir persönlich?
Dass man den eigenen Geschmack als Musikjournalist nicht ausblendet, ist eh klar, das wäre ja auch widersinnig. Nur ist der eigene Geschmack als Begründung halt zu wenig, da braucht es schon ein bisschen mehr an Erklärung und Auseinandersetzung. Man muss da halt auch anmerken, dass der Falter kein Musikmagazin ist, sondern eine Zeitung für Politik, Kultur, Stadtleben und Medien. Es gibt bei uns eine größere Musikgeschichte pro Woche, und neben dem Pop in all seinen Spielarten sollten da auch noch der Jazz und die Klassik vorkommen. HipHop ist dann halt nur ein Teilausschnitt von der großen Musikwelt, die wir da im Idealfall abbilden. Wir geben uns aber eh Mühe.
Zahlt sich Musikjournalismus in Österreich aus? Du hast vorher schon gesagt, dass du zwei Wochen Urlaub nehmen musstest, um das Buch fertigstellen zu können…
Das sind jetzt zwei Paar Schuhe. Beim Falter bin ich ganz normal als Redakteur angestellt. Ich lebe also tatsächlich davon, mich mit Musik zu beschäftigen. Da habe ich natürlich ein großes Los gezogen: der Falter ist mein Lieblingsmedium in Österreich und ich habe mich mein Leben lang mit Musik beschäftigt und jetzt darf ich mich in meinem Lieblingsmedium bezahlter Weise mit Musik beschäftigen, also wunderbar! Ein Buch wie „Wienpop“ darf man aber nicht mit der Absicht machen, Geld damit zu verdienen. Im Vorfeld hatte ich mir naiver Weise noch gedacht, dass dieses Konzept doch echt dafür aufgelegt wäre, dick und fett subventioniert zu werden. Wien, die Stadt der Musik, kriegt zum ersten Mal ihre Popgeschichte aufgeschrieben, multimediale Begleitüberlegungen inklusive. Es stellt sich aber schnell heraus, dass die Realität eine ganz andere ist. Es gab aber zumindest eine sehr erfreuliche Kooperation mit der Musiksammlung der Wienbibliothek, die die Mitschnitte der Interviews für ihr Audioarchiv angekauft hat. Und vom Verlag gab es natürlich ein Honorar, das aber so lange überschaubar bleibt, so lang das Buch kein Bestseller wird. Wenn ich mir meinen „Wienpop“-Nettostundenlohn ausrechne, liegt der wahrscheinlich irgendwie zwischen einem und zwei Euro. Rückblickend denke ich mir schon: Wie konnten wir uns diesen Wahnsinn antun und wie konnte das neben Vollzeitjob und Familienleben funktionieren? Während wir daran gearbeitet haben, war das aber kein Thema.
Die mediale Ignoranz gegenüber aktueller Musik aus Österreich zeigt sich bei Rap und HipHop auf besonders eklatante Weise. Stimmst du dem zu und wenn ja, worauf ist das zurückzuführen?
Ja, das ist ein interessantes Thema. Gerade weil in den letzten zwei, drei Jahren aus Österreich kommende und meist in Deutschland lebende oder tätige HipHop-Acts ja auch kommerziell sehr erfolgreich sind. Wo man eigentlich sagen müsste: da schauen wir einmal genauer hin. Woran es liegt, dass das trotzdem so wenig stattfindet? Ich würde vermuten, dass ein bissl der Zugang und das Vokabular fehlen. So groß und erfolgreich HipHop auch wurde, hat er sich doch ein Stück weit den Nimbus einer Subkultur erhalten. Es ist also vielleicht schwieriger die Codes des HipHop zu knacken. Wahrscheinlich ist es aber auch so, dass elektronische Musik medial tendenziell unterrepräsentiert ist. Beim HipHop ist es aber noch eklatanter. Weltweit kann man wahrscheinlich sagen, dass HipHop, wenn man noch R’n‘B dazu nimmt, die Rockmusik seit den 90ern als führende Popsprache abgelöst hat. Österreich hat das offenbar nur bedingt erreicht.
Im „Wienpop“ Buch wird hingegen der Wiener HipHop Kultur breite Aufmerksamkeit geschenkt. Rund die Hälfte des 90er Jahre Kapitels von Florian Obkircher handelt von HipHop. Wenn du dieses Kapitel geschrieben hättest, hättest du es dann auch so angelegt?
Rund die Hälfte ist übertrieben. Das 90er-Kapitel beginnt mit der Geschichte der Moreaus, dann geht es konkret um HipHop, und dann noch um den späten Falco, weil das in diesem Zusammenhang einfach aufgelegt war. Die Struktur des 90er-Kapitels haben Florian und ich gemeinsam erarbeitet, den Abschnitt über die Moreaus habe ich sogar selber verfasst. Das war eines der Dinge, die mir ein Riesenanliegen waren. Die Geschichte der Moreaus kennt man, wenn man sich dafür interessiert, sie existierte bisher aber eben nur als Geheimwissen. Aus diesem Haufen, aus diesen vier Typen (Anm.: DJ DSL, Peter Kruder, Sugar B, Rodney Hunter) ist im Prinzip die Wiener Downbeat-Szene hervorgegangen, und das ist die Keimzelle der österreichischen HipHop-Kultur. Das ist die Überband, auch wenn sie es musikalisch nicht war. Ich mag ihr Album „Swound Vibes“ auch musikalisch, vor allem aber finde ich es großartig, was sie in ihrer kurzen, aber wechselvollen Karriere so alles gemacht haben und wie sie es gemacht haben. Und obwohl sie für die österreichische Popgeschichte so eine wichtige Band sind, war da die längste Zeit praktisch nichts dokumentiert. Das geht soweit, dass nicht einmal alte Pressefotos aufzutreiben waren. Peter Kruder war dann total überrascht und erfreut, dass wir ein bislang unveröffentlichtes Foto der Moreaus im Buch haben, das auch er nicht kannte. Mir war es wichtig, die Geschichte der Moreaus aufzuschreiben, nicht nur aufgrunddessen, was daraus hervorgegangen ist, sondern auch, weil man über die Moreaus noch einmal in konzentrierter Form im Schnelldurchlauf die ganzen 80er erzählen kann. Rodney Hunter sitzt als 11-jähriger Bub im Proberaum bei Drahdiwaberl und spielt auf Falcos Bass herum, mit 14 steigt er bei der Mordbuben AG ein. Sugar B wird Anfang der 80er allen Ernstes von Falco nach einem Drahdiwaberl-Konzert in der Arena nach Haus geführt, später spielt er in allen möglichen New-Wave-Bands. Die Mitglieder der Moreaus werden im U4 sozialisiert, dem Wiener New-Wave-Tempel, und sie beginnen als Do-It-Yourself-Underground-Gitarrenband. Ich werde immer wieder gefragt: was ist denn das Charakteristische an Wiener Popmusik? Das Charakteristische gibt es nicht, weil sie zu facettenreich ist. Was sich aber schon durchzieht, oder was man zumindest immer wieder finden kann, ist der Humor-Aspekt. Das geht los mit Bronner und Qualtinger, die sich über Rock ’n‘ Roll lustig machen und aus der Parodie von Rock ’n‘ Roll heraus eine der ersten österreichischen Rocknummern überhaupt aufnehmen, „Der Halbwilde“. Beim Techno findest du das bei einer Band wie Ilsa Gold. In der Frühphase der Moreaus, als sie noch Dr. Moreau‘s Creatures hießen, waren sie ja so etwas wie die Plüschversion, die spielerische, moderne Version von Drahdiwaberl, bei denen Humor ja auch eine wichtige Rolle spielte. Irgendwann kam dann der Bruch, an dem man draufgekommen ist, dass jetzt nicht mehr der Underground-Gitarrensound der heiße Scheiß ist, sondern HipHop. Und dann wurde das daraus, was man unter Moreaus wirklich kennt.
Aus der Vielzahl an „Wienpop“-Geschichten habt ihr euch für die Falter Coverstory über das Buch jene von Falcos Tod und seines Besuchs in einer „Tribe Vibes“-Radiosendung herausgepickt. Wieso gerade diese?
Es geht darin um den späten Falco und sein tragisches Ende, die Tribe-Vibes-Episode ist darin das Bindeglied zum HipHop-Teil. Dass dieses Kapitel als Vorabdruck erschienen ist, hatte den ganz pragmatischen Grund, dass Falco nicht ganz unbekannt ist. Da findet man vielleicht eher einen Zugang zum Buch und dem Thema „Wiener Popmusik“, als wenn eine Folkgeschichte aus den 60ern oder eine abenteuerliche Punkgeschichte aus den späten 70ern erzählt wird. Außerdem ist das vermutlich das einzige Kapitel, bei dem alle vier Autoren ihre Finger im Spiel hatten. Falco ist ja eine der wenigen österreichischen Popfiguren, die wirklich gut dokumentiert ist und über die es mehrere Bücher gibt. Ich finde aber, dass bei uns ein bisschen ein anderer Blick auf ihn geworfen wird. Von Leuten, die als Labelchef, Tourbegleiter oder langjährige Mitmusiker ganz nahe dran waren oder die ihm, so wie bei Tribe Vibes eben, an einem besonderen Punkt begegnet sind. Dieser eine Punkt hat dann nachhaltigen Eindruck hinterlassen, wo die Leute 15 Jahre danach noch sehr lebendig davon erzählen können.
Bei der Falco-Tribe Vibes Episode wirkt es so, als wäre sie die einzige gewesen, wo Rap aus Österreich und Pop zusammengekommen sind, woran liegt das?
(Schnauft, überlegt lange) Wahrscheinlich müsste ich da etwas intensiver darüber nachdenken. Aus dem Ärmel kann ich keine Erklärung schütteln. Es ist mir nämlich ein Stück weit wirklich ein Rätsel. Es passieren dann zwar schon so Dinge wie Skero und „Kabinenparty“. Wo ich mir aber auch denke: Texta hatten über all die Jahre immer wieder Sachen, die nahe an dem dran waren. So etwas wie „Sprachbarrieren“, damit könnte man doch auch die Massen erreichen. Insgesamt kann ich eigentlich nur zustimmen: Ja, HipHop ist in Österreich medial unterrepräsentiert. Wenn er vorkommt, läuft es gerne über die Skandalisierungsschiene. 90 Prozent von dem, was in den breitenwirksamen Medien in den letzten Jahren über HipHop geschrieben wurde, handelte im Prinzip doch von irgendwelchen Bushido-Skandalen. Und ja, Rap und Pop, das ist in Österreich ein kompliziertes Thema.
Eine Band, die immer wieder daran gekratzt hat, breitenwirksamer bemerkt zu werden – „Immer schön langsam“ ist zum Beispiel regelmäßig auf Ö3 gelaufen – war Schönheitsfehler …
Schönheitsfehler waren wahnsinnig wichtig. Ich kann mich aber erinnern, dass Schönheitsfehler damals in den 90ern sehr viel Kritik einstecken mussten: Ausverkauf dies und Pop das. Mir persönlich waren die frühen Schönheitsfehler am liebsten, ihre erste EP halte ich bis heute für einen großen Wurf. Aber es war doch gut, dass sie dann irgendwann über die reine HipHop-Community hinausgekommen sind, oder? Teilweise scheint es im österreichischen HipHop bis heute so ein Pop-Problem zu geben. Ich habe heuer im Sommer mit zwei der Macher des Honigdachs-Labels gesprochen. Das war knapp nach dem Monobrother-Auftritt beim Popfest. Sie haben sich darüber gewundert, dass Monobrother dorthin eingeladen wurde. Von wegen: „HipHop? Beim Popfest?“ Ich dachte mir nur: „Ja logisch, dass er eingeladen wurde! Weil es halt leiwande, zeitgenössische Popmusik ist.“ Monobrother steht für Rap mit Lokalkolorit, er streut Austropop-Zitate ein, hat so eine grantige, durch und durch wienerische Figur kreiert. Also: toller Pop! Sagen darf man das aber nicht, weil der HipHopper in Wien scheinbar gekränkt ist, wenn man ihm mit dem Begriff Pop kommt.
Ist das bei Musikern aus anderen Genres auch der Fall, dass sie sich denken: „Wir wollen nicht Pop sein und viele Leute erreichen, sondern im Untergrund bleiben“?
Tatsächlich ist das für mich ein bisschen eine Rap- oder HipHop-Krankheit. Wobei das über die Jahre echt mehr geworden ist. Anfang der Nullerjahre hatten wir im Falter Geschichten über Acts wie DJ DSL, die Waxolutionists, Total Chaos, Texta oder Urbs & Cutex. Da war diese Abgrenzung nie so ein Thema. Abgrenzung ist ja eh nichts Schlechtes. Einerseits. Andererseits kann es halt aber auch schnell einmal sektiererisch werden. Yasmo und die Honigdachs-Typen haben in den Falter-Gesprächen heuer fast wortgleich dasselbe gesagt: es gäbe sie schon, die Wiener HipHop Szene, aber sie wäre halt sehr klein. Wenn es Events gibt, Konzerte oder so, trifft man zwar alle, aber ein guter Teil des Publikums sind die Protagonisten selbst und irgendwie wird das nicht größer. Da denke ich mir: „Ja gut, wenn ihr so ein Pop-Problem habt und euch in eurem Selbstverständnis permanent gegen irgendwas abgrenzen müsst: kein Wunder!“ Das gilt jetzt weniger für Yasmo und mehr für die Honigdachse. Wo es mich aber gleichzeitig schon wundert, wenn so Sachen passieren, dass diverse aus Österreich kommende Rapper in den deutschen Charts in den Top 10 sind, warum dann die vor der Haustür stattfindende österreichische Subkultur HipHop heute offensichtlich noch weniger wahrgenommen wird als vor zehn, 15 Jahren.
Gibt es auch noch andere Rapmusiker aus Wien, die du schätzt oder geschätzt hast?
Ich habe die Duck Squad Welt damals ziemlich intensiv verfolgt. Da sind Dinge passiert, die sich bis heute gut halten. Das Dampfende Ei zum Beispiel hat teilweise Sachen vorweggenommen, die später dann in Hamburg aufgetaucht sind. Skero war da ja auch dabei, den mag ich bis heute, solo sogar noch lieber als mit Texta. Letztens war ich bei einer Diskussion, wo Trishes auch dabei war. Er hat im Rückblick über die Kaputtnicks-Nummer „Brief an den Bundeskanzler“ gemeint, dass man das vielleicht hätte verdichten können. Für mich ist das auch eine Nummer, die sich über die Jahre gehalten hat. Ich habe Politikwissenschaft studiert und eine Diplomarbeit zum Thema „Popmusik als Medium des Politischen“ geschrieben. Die Kaputtnicks sind darin mit dem „Brief an den Bundeskanzler“ ebenso vorgekommen, wie Texta mit „Widerstand“. Ich muss gestehen, dass österreichischer HipHop dann etwas aus meinem persönlichen Fokus gerückt war. Die Honigdachs-Sachen finde ich aber gerade ziemlich spannend, Brenk Sinatra ebenso, und Yasmo ist auch sehr sympathisch.
Es gab mehrere Rap Crews, die gegen die Schwarz-Blau Regierung künstlerisch aktiv waren, das The Message Magazine hat damals eine ganze Printausgabe gegen Schwarz-Blau herausgegeben. Jetzt fehlt aber der Widerstand und die politische Message im österreichischen HipHop weitestgehend. Worauf würdest du das zurückführen?
Man kann bei Monobrother sicher politische Aussagen finden, und Yasmo kann man nicht nur politisch verstehen, sondern die ist dezidiert politisch. Ich glaube aber nicht, dass man heute auf die x-te Version der Schnarchnasenpolitik der großen Koalition als Künstler einen ähnlichen Zorn aufbringen kann, wie auf diesen Wahnsinn namens Schwarz-Blau damals. Dass früher alles politischer gewesen wäre, wird ja sämtlichen Genres vorgeworfen: die Rockmusik der 60er wäre so progressiv und heute wäre der Rock restaurativ, reaktionär oder sonst was. Und der Punk wäre einmal so eine gesellschaftszersetzende und verändernde künstlerische Kraft gewesen und dann ist es so bieder und konservativ geworden. Ich fand es schön, was mir Fettes Brot kürzlich in einem Interview erzählt haben. Angesprochen auf die Entwicklung im deutschen HipHop betonten sie, wie sehr sie die gegenwärtige Vielfalt schätzen. Die Berliner Gangster stehen da neben den Stuttgarter Blümchen-Rappern, den Hamburger Spaßvögeln und jenen, die sich Masken aufsetzen und nur kuscheln wollen. Bei dieser Vielfalt findet man sicher heute wie damals Rapper mit dezidiert politischem Ansatz.
Die erwartbare Abschlussfrage: Ist eine Fortsetzung des Buches denkbar?
Ich würde es gerne machen, glaube aber, dass die 00er-Jahre und die 10er-Jahre ungleich schwieriger abzubilden sind, als alle vorangegangenen Jahrzehnte. Es hat bis zur Jahrtausendwende immer prägende Strömungen gegeben, Techno mit all seinen Folgen war die letzte davon. Für die 00er-Jahre hast du aber ein großes pluralistisches Nebeneinander von hochqualitativen Sachen, die vielfach nichts miteinander zu tun haben. Man müsste also diverse Parallelgeschichten erzählen. Und man müsste auch den notwendigen historischen Abstand haben, um es auf historisierende Art und Weise erzählen zu können. Aber ich hoffe schon, dass es irgendwann auch ein Wienpop 2015 oder Wienpop 2020 geben wird.
90er Covercollage aus Wienpop. Fünf Jahrzehnte Musikgeschichte erzählt von 130 Protagonisten“ (S. 288f.)
linke Seite (v. l. n. r.): Das Dampfende Ei: „Naturwaach“ (Duck Squad); The Moreaus: „Swound Vibes“ (GiG Records); Diverse: „Pomelo 01.5 Compilation“ (Pomelo); Diverse: „Austrian Flavors Volume 1“ (ORF); Sluts’n’Strings & 909: „Carrera“ (Cheap); Diverse: „Fried Kutz“ (Subetage); Planet E: „Leaving You with This“ (Klein); DJ DSL: „I L.O.V.E You“ (Mego); Tex Rubinowitz/Gerhard Potuznik: „Mäuse“ (GiG Records); Patrick Pulsinger: „Porno“ (Disko B); Bingoboys: „The Best of Bingoboys“ (Atlantic); Schönheitsfehler: „Broj Jedan“ (Duck Squad); Diverse: „Danube Dance“ (GiG Records); Ilsa Gold: „Winterreise“ (Mainframe); Curd Duca: „Easy Listening 1–4“ (Normal); Louie Austen: „Consequences“ (Cheap); Peace Orchestra: „Peace Orchestra“ (G-Stone);
rechte Seite (v. l. n. r.): Kruder & Dorfmeister: „The K&D SessionsTM“ (Studio !K7); Sofa Surfers: „Sofa Rockers Remixes“ (Klein); b.Low: „Mondo Salsa“ (Abuse Industries); General Magic & Pita: „Fridge Trax“ (Mego); The Private Lightning Six: „They Came Down“ (Morbid); Sugar B: „I+I Produkt“ (Dub Club); Punk Anderson: „Shave That Pussy“ (Rough Trade); B. Fleischmann: „Pop Loops for Breakfast“ (Charhizma); Waldeck: „The Night Garden“ (Dope Noir); Dzihan & Kamien: „Freaks and Icons“ (Couch); Sluta Leta: „Space is the Place“ (Uptight); Fennesz: „Endless Summer“ (Mego); Diverse: „The Eclectic Sound of Vienna“ (Spray); Aphrodelics: „On the Rise“ (BMG)
Das Buch „Wienpop“ ist unter anderem hier erhältlich.
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