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Benjamin Button und Bahn-Nomade

Benjamin Button und Bahn-Nomade

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MC Rene ist Urgestein der deutschen Rap- und Jam-Szene. Wenn man aber nun bereit ist, sein altes Leben aufzugeben, um neue Wege zu beschreiten, ergibt sich ein bahnbrechender Umschwung. So erging es ihm, als er beschloss, sein früheres Leben loszulassen, seine Sicherheiten aufzugeben, um mit dem Zug quer durch Deutschland zu fahren. Aus diesem Jahr, mit all seinen Erlebnissen, resultierte schlussendlich nicht nur das Buch, beziehungsweise später Hörbuch „MC Rene Alles auf eine Karte – Wir sehen uns im Zug“, erschienen beim Rowohlt-Verlag, sondern auch eine breite Weltsicht, die Perspektiven für differente Anschauungen des Seins eröffnet hat. Der Besuch im Wiener Luftbad bei der Freestyle-Session am 21. März galt als Anlass, seine Erfahrungen genauer zu betrachten.

Text & Interview : Hemma Bergner

TM: Hatte für dich das Reisen Aspekte von einer „Realitätsflucht“?
MC Rene:
Nein, eher eine Flucht vor der Illusion einer Pseudo-Realität, die dir suggeriert Sicherheit wäre gleich Zufriedenheit. Man könnte sagen, ich bin ins wahre Leben geflüchtet auf dem Weg zu mir selbst.

Wie war dein Zeit-Empfinden beim Reisen?
Durch die hohe Reisefrequenz habe ich das Gefühl gehabt, die Zeit vergehe gleichzeitig langsam und schneller. Wenn ich auf die letzten vier Jahre zurückblicke, erkenne ich schon , dass die Zeit wie im Flug – oder im Zug – vergangen ist.

Der Zug ist ein ruhiges, eher langsames Verkehrsmittel, es bietet viel Raum zum Denken. Wie hast du den Kontrast zur schnellen Welt/schnellen Gesellschaft empfunden?
Ich kam mir vor wie Benjamin Button. Alle um mich herum wurden älter, während ich immer jünger wurde. Der Zug hat mich aus dem Rhythmus der Anderen katapultiert, ein wenig zwischen Raum und Zeit, zwischen hier und jetzt: Immer auf dem Sprung von A nach B, eine Art Bahn-Nomade, der mal hier mal da reinschaut, aber nie lange bleibt …

Der Zug hat im Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheit und die Deportationen einen negativen Beigeschmack. Hast du bei deiner Reise an die geschichtliche Vergangenheit Deutschlands gedacht?
Nein.

Kennst du das Buch „Die Reise nach Petuschki“? Ein sehr skurriles Buch über das Zugfahren und Reisen… Was waren deine Inspirationen beim Schreibprozess des Buches?
Meine Schreibinspirationen waren eigentlich nicht andere Bücher, sondern ganz klassisch meine Reiseerfahrungen und Erlebnisse während des Selbstexperiments. Das Buch ist mehr Kopfkino als Vergangenheitsbewältigung, man hat eher das Gefühl unmittelbar mit MC Rene im Zug zu sitzen und seine Abenteuer mitzuerleben. Davon abgesehen hatte ich eigentlich gar nicht vor ein Buch zu schreiben, aber das Schicksal wollte es wohl so.

In welchen Bereichen braucht man Planungen im Leben, in welchen kann man sich deiner Meinung nach treiben lassen? Wie wichtig sind Visionen dafür?
Wichtig ist eine gesunde Struktur im Leben zu haben, ein persönliches System, welches darauf beruht aus Fehlern die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Wenn ich versucht hätte, meine letzten Jahre im Vorfeld zu planen, wäre ich gnadenlos gescheitert. Somit hatte das Treibenlassen etwas Aufregendes, weil du nie genau wusstest, was passiert. Chancen erkennen, sie ergreifen und mit Leidenschaft und einem gewissen Maß an Disziplin sein Ding durchzuziehen. Ich glaube nicht an Visionen, ich glaube an Ziele und dass auch der Weg das Ziel sein kann.

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Wo glaubst du, muss man stehen, um Kritik in einem System anzubringen? Wie glaubst du, wirkt sie effektiv (so, dass Änderungen stattfinden)?
Bewusst zu leben ist der Schlüssel zur Veränderung und die fängt bekanntermaßen bei einem selber an. Bewusste Ernährung, das Hinterfragen von Informationen und Medien und Politik sind dabei entscheidende Faktoren. Leute, die keinen Hunger haben, gehen halt nicht auf die Straße. Wir leben in einem beispiellosem Wohlstand und merken nicht, was uns alles untergejubelt wird (Stichwort: Genmais usw.). Wichtig ist meines Erachtens, dass man sich selbst nicht zu ernst nimmt. Prinzipiell wäre ich für eine große TV-Show, wo alle Parteien nach vier Jahren, bevor die große Wählerei losgeht, transparent offenlegen müssen, was sie von ihren Versprechungen umgesetzt haben, um danach bewertet zu werden.

Du rappst, dass dein Leben Freestyle sei. Was hältst du von immer bekannter werdenden Impro-Workshops und Impro-Theatern?
Impro-Thetaer usw. kenne ich schon seit vielen Jahren und finde es sehr spannend, wenn Könner am Werk sind, was sie an einem Abend mit dem Publikum spontan machen können, anhand von bestimmten Techniken. Ich beziehe meinen Songtext aber eher auf das Leben im Allgemeinen, als auf Freestyle im Speziellen.

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Wie siehst du die Transmission von TV Formaten wie Viva Freestyle zu Youtube Kanälen wie Aggro TV / HDF?
Letztendlich gibt es mittlerweile eine Reihe von verschiedenen HipHop-Formaten im Internet, auf denen man sich über aktuelle Künstler informieren kann. Aber dennoch ist es interessant zu beobachten, dass sich alles wie beim Fernsehen um die Quote dreht, beziehungsweise um die Klicks. Ich behaupte mal, es gibt kein Internet-HipHop-Format, was sich 100 Prozent an der Qualität der Musik orientiert, sondern vielmehr an die Skandale und Klicks, die ein Künstler produziert. Relevanz für die Massen orientiert sich eben immer an der Quote, echte Qualität tut das nicht. Die Masse der HipHop-Musikschaffenden ist auch im Gegensatz zu früher wesentlich größer. Gute HipHop-Musik findest du meistens nicht auf den großen einschlägigen Seiten, du musst sie selbst entdecken. „Diggin in the crates“ sozusagen …

Wie stehst du heute zur Freestyle-Szene in Deutschland?
Im Prinzip wie früher – es gibt gute und schlechte MCs.

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