"The hardest thing to do is something that is close…
Anfänglich hat sich Noga Erez für ihr zweites Studio-Album ein besonderes Konzept überlegt. Anfänglich, da sie im Verlauf der Arbeiten an „KIDS“ aus dem selbstgesteckten thematischen Korsett ausbrach. Zunächst sollte es auf „KIDS“ vor allem um familiäre Bindungen gehen. Dann wucherten die Äste des musikalischen Baums, so dass politische Songs, Songs über Mental Health und generell über das Gefühl, einer Generation anzugehören, die sich in der Ohnmacht gefangen fühlt, dazukamen.
Bei solchen Themen und der wenig positiven Gegenwart stehen Künstler*innen vor der Gefahr, in den Nihilismus zu versinken. Noga Erez hat einen anderen Zugang. Sarkastisch-frech und ungemein scharfsinnig geht die geübte Beobachterin aus Tel Aviv ans Werk. „We don’t need bombs, we got fire kites“ lautet etwa die Hook auf „Fire Kites“, quasi Nachfolger von „Dance While You Shoot“ aus dem 2018er-Debüt „Off the Radar“. Das ist beileibe nicht das einzige starke Statement auf „KIDS“.
Ein langsames Hineingleiten in das Album gibt es nicht. Stattdessen geht es nach dem kurzen Intro „KTD“ auf „Cipi“ gleich zur Sache. „Cipi“ erinnert stilistisch an das Œuvre des Generation-Z-Pop-Stars Billie Eilish und bietet einen schonungslos ehrlichen Einblick in den mentalen Zustand der israelischen Künstlerin; kein Zufall, ist eine Bedeutung des Titels eine Abkürzung des Medikaments Cipralex, das gegen mittlere bis schwere Depressionen eingesetzt wird (eine andere Bedeutung von „Cipi“ ist die als Kurzform des hebräischen Namens Tziporah). „I’ve been deep, deep, deep, deep, deeply depressed“, konstatiert sie, meint in der Hook jedoch: „But you think you can mess with me?/You think you are the boss of me/But most the time you’re my b*tch“. Noga Erez behandelt Angstzustände und deren medikamentöse Behandlung mit einer charismatischen, unterkühlten Attitüde.
Trügerische Harmlosigkeit
Diese Herangehensweise kennzeichnet auch „NO news on TV“. Der Lockdown-Song weckt mit seiner Beschwingtheit Erinnerungen an manch Track von Mike Skinners The Streets oder Pharrells Ohrwurm-Song „Happy“. Inhaltlich befasst sie sich mit der Sehnsucht nach einem Ende der tagtäglichen Informationsflut: „I don’t wanna look at my phone anymore“, lautet eine Zeile aus der musikalischen Quarantäne-Geburt. Auch hier lässt Noga Erez dem Hörenden ihre Lethargie regelrecht spüren.
Herzstück des Album ist schließlich „End of the Road“. Hier thematisiert sie, beeinflusst durch das Ableben der Mutter ihres Partners Ori Rousso, den Tod. Das Ganze passiert aber nicht unter dem Einsatz von Trauer tragenden Geigen, sondern in einem catchy Uptempo-Song. Wieder einer dieser Momente, in denen Noga Erez Harmlosigkeit vortäuscht, die es bei näherer Betrachtung nicht gibt.
Denn trotz der oft schweren inhaltlichen Kost: Verglichen zum Vorgänger ist das Gros der Songs auf „KIDS“ eingängiger, poppiger gestaltet. Man höre nur „VIEWS“, das vom international bekannten Phänomen des Klick-Kaufs handelt, oder das Partnerschafts-Drama „Story“. Noga Erez hat sich zudem im Songwriting und lyrisch weiterentwickelt – mit der Konsequenz, dass auf dem Album fast jede Zeile sitzt (die Line „I can melt the ice for the Eskimos“ auf „Bark Loud“ ist lediglich ein Ausrutscher).
Positiv auch die prominente Rolle, die Produzent Ori Rousso auf dem Album spielt: Als ROUSSO tritt er im Vergleich zu „Off the Radar“ aus dem Schatten ins Licht. Es spricht für ihn, dass er auf Songs wie „VIEWS“ mit seiner Performance fast einem Double der Gorillaz-Frontfigur 2D gleicht. Ori Rousso ist der kongeniale Gegenpart zu Noga Erez, die auf dem Album ihren künstlerischen Variantenreichtum zeigt und im Flüsterton einer PJ Harvey ebenso sicher wirkt wie im Spitter-Modus.
Erinnerungen an Kendrick Lamar
Die Suche nach den Einflüssen auf „KIDS“ ist keine nach der Nadel im Heuhaufen. Ohne Frage: Eine der prägenden Figuren war Kendrick Lamar. Immer wieder begegnet er einem auf dem Album. So gibt Gast-Rapper Reo Cragun mit seinem Part auf „VIEWS“ den Kendrick-Impersonator, Noga Erez spielt in „NO news on TV“ auf den Kendrick-Lamar-Song „Alright“ an und auf dem Titeltrack, der mit Referenzen an 9/11 und den Sechstagekrieg ausgestattet ist, fühlt sich der Hörende in ständiger Erwartung eines Parts des rappenden Pulitzer-Gewinners. Der schaut zwar nicht vorbei, stattdessen liefert Gast-Rapperin Blimes aus San Francisco eine höchst solide Vorstellung ab.
Es ist auch Kendrick Lamar, der mit dem Horror-SciFi-Beat zu „Candyman“ seine Freude gehabt hätte – eine Produktion, die man aus der Schmiede eines Flying Lotus vermuten würde. Apropos Flying Lotus: Spuren des Brainfeeder-Gründers sind generell häufig auf dem superb produzierten „KIDS“ anzutreffen. Bei den Einflüssen kommt man schließlich auch an M.I.A. nicht vorbei. Das zeigt sich vor allem im durch und durch angriffslustigen „Bark Loud“, in dem Noga Erez das „Underdog Kid“ gibt. Nur echt mit Faust in der Luft.
Trotz der Vielfalt ist ein musikalischer und thematischer Stamm erkennbar, das anfängliche Konzept nicht verschwunden. „KIDS“ ist im Ganzen irgendwie doch ein Album über Familie. Für dieses Gefühl sorgen unter anderem die hebräischen Vocal-Schnipseln, die von Noga Erez‘ Mutter stammen und immer wieder im Album eingestreut werden. Von ihr kommt beispielsweise die Phrase „oi va voi“ im Trennungs-Track „YOU SO DONE“, die übersetzt „Oh Nein“ bedeutet. Ein Statement, das aber sicher nicht zu Noga Erez‘ Darbietung auf „KIDS“ passt, ganz im Gegenteil.
Fazit: Mit „KIDS“ nahm sich Noga Erez der Aufgabe des schwierigen zweiten Albums an. Eine Aufgabe, die sie mit Bravour erledigte. „KIDS“ kombiniert eingängige, tanzbare Beats mit Ohrwurm-Hooks und inhaltlich starken Texten. Ein Album, das beweist, warum Noga Erez zu den spannendsten Künstler*innen der Gegenwart zählt – und sich ähnliche Lorbeeren wie eine Billie Eilish verdient hätte.
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