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Wütende Töne aus Swaggerstan: M.I.A. mit „AIM“ // Review

Wütende Töne aus Swaggerstan: M.I.A. mit „AIM“ // Review

(Interscope/Polydor/VÖ: 09.09.2016)
(Interscope/Polydor/VÖ: 09.09.2016)

Bei M.I.A. hat sich eine Menge Wut angestaut. Wut über die gegenwärtige Weltlage, wo dem tausendfachen Ertrinken von Flüchtlingen im Mittelmeer oft nur mit einem Achselzucken begegnet wird. Wut über den Sieg der Brexit-Befürworter. Wut über dumpfbackige Rassisten, die Pakistanis nicht von Tamilen unterscheiden können, wie sie im Interview mit der Süddeutschen Zeitung berichtete. Wut über die US-Visabehörde, die ihr die Einreise in die Staaten verweigert. Und natürlich Wut über die Mechanismen der Musikindustrie: So nominierte MTV ihr Video zu „Borders“ nicht für die VMAs, was M.I.A. mit einer ganzen Ladung an „-ismen“ kommentierte. Hinzu kommt die Releasestrategie ihres Labels Interscope, welches „AIM“ partout nicht veröffentlichen wollte – und erst reagierte, als M.I.A. öffentlichkeitswirksam via Twitter mit einem Leak drohte.

Nun handelt es sich bei Wut um ein zweischneidiges Schwert, das als Antrieb zwar ungeahnte kreative Leistungen ermöglicht, zugleich aber die Sicht auf die Dinge vernebeln kann. Auf M.I.A. trifft im Falle von „AIM“ beides zu. Großartig transportiert sie ihre Gefühlslage im Opener „Borders“, einem eindrücklichen Kommentar zur europäischen Flüchtlings- bzw. Abschottungspolitik. „Borders – What’s up with that?“ wirft sie dem Hörer entgegen. Und bevor sich dieser Gedanken über eine Antwort machen kann, legt sie mit „Your privilege  – What’s up with that?“ nach. „Borders“ ist aber nicht nur Protest, sondern Zeichen eigener Ratlosigkeit. M.I.A. wirft die Frage nach Identitätskonzeptionen im postnationalen Zeitalter auf, eine passende Antwort bleibt sie jedoch schuldig. Dennoch ist „Borders“ der herausragende Song auf „AIM“ – der Song, auf dem sie ihre eigene musikalische Zielsetzung am besten umsetzt.

Das Sujet der Grenze bleibt im Folgenden das allgegenwärtige Thema auf „AIM”. Nicht zum ersten Mal in ihrer Karriere, heißt es in ihrem größten Hit „Paper Planes“ schließlich: „If you catch me at the border I got visas in my name“. Nach der Logik Hegels bilden Grenzen nicht nur Gegensätze, sondern weisen als Charakteristik sowohl Kontinuität und Unbeständigkeit auf. Grenzen, egal ob von politischer oder sozialer Natur, sind weder fix noch unveränderbar. Aufgrund ihrer eigenen Biografie weiß M.I.A. nur allzu gut darüber Bescheid – und seit Beginn ihrer Karriere versucht sie sich an der Dekonstruktion des Konzepts.

Auf „AIM“ funktioniert dieses Vorhaben nur einmal dank allerhand Metaphern. Die Botschaft von „Bird Song“ mag zunächst im Wirrwarr aus Blaqstarrs Vogelgeräuschen und M.I.A.s ornithologischen Exkurs untergehen, wird aber als Gesamtwerk klar: Die friktionslose Migration von Vögeln ist für M.I.A. der Idealzustand, an dem sich die Menschen orientieren sollten. Wenn Tiere auf Grenzen verzichten können – warum nicht auch wir? Das mag in dieser Radikalität etwas naiv klingen. Zum Nachdenken regt „Bird Song“ trotzdem an. 

Diese Qualität erreicht M.I.A. an vielen Stellen nicht. „Jump In“, das bereits auf Anoushka Shankars achtem Album „Land of Gold“ veröffentlicht wurde, erweist sich ebenso als überflüssig wie das mit Hinweisen auf die eigene Diskografie geschmückte „Visa“, das uninspirierte „Finally“ oder „Fly Pirate“. Wer sich mit letzterem – nach dem Trubel um das adaptierte PSG-Trikot in „Borders“ – eine kritische Auseinandersetzung über arabische Scheichs, die ihr Geld lieber in einen französischen Fußballverein pumpen anstatt Flüchtlingen in den Nachbarstaaten zu unterstützen, erhofft, wird enttäuscht sein. Zwar greift M.I.A. erneut die Thematik des Grenzübertritts auf, kann dabei aber keine neue Facetten zu bereits Gesagtem hinzufügen.

Auf „Ali r u ok?“ versucht sich M.I.A. an einer kritischen Abhandlung der Arbeitssituation vieler Migranten in Großbritannien, verstrickt sich aber in erschreckender lyrischer Substanzlosigkeit. Nicht das einzige Mal auf dem Album, wo die Britin den Fokus in ihren Lyrics verliert. Zu oft wirken ihre Ideen nicht zu Ende gedacht, wie beispielsweise auf dem zähflüssig klingenden „Foreign Friend“, das musikalisch an die Nas/Damian-Marley-Kollabo „Patience“ erinnert und eine starke Performance von Featuregast Dexta Daps vorweist, aber an M.I.A.s textlichen Lücken krankt: Beim Versuch, das Thema der kulturellen Assimilation anhand einer Freundschaftsperspektive zu beleuchten, verliert sie im Track schlichtweg den roten Faden.

„Visa“ hingegen ist ein schlampiges Songkonstrukt, dem M.I.A. alibimäßig eine Flüchtlingsreferenz in der Hook hinzugefügt hat – ganz egal, ob sich das als passend erweist oder nicht. Der poppigste Track ist wie erwartet die Kollabo mit Ex-One-Direction-Member Zayn Malik. Der Text von „Freedun“, ein Produkt gemeinsamer WhatsApp-Sessions, bleibt aber durch inhaltsleere Zeilen wie „I’m a swagger man/Rolling in my swagger van/From the People’s Republic Of Swaggerstan“ überwiegend negativ in Erinnerung.

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Mit „Go Off“ und dem bassstarken „A.M.P. (All My People)“ bringt M.I.A. auch die typischen Partybrecher, deren Wucht aber weit unter ähnlichen Tracks vergangener Alben anzusiedeln sind – weder lyrisch noch musikalisch zwingend und deswegen vernachlässigbar. Fernab dessen fiel die Auswahl der Beats wieder äußerst bunt aus, EDM in allen Variationen  (Buraka-Son-Sistema-Member Branko sorgt beispielsweise für etwas Kuduro, Skrillex für Dubstep), HipHop und Weltmusik reichen sich wie gewohnt die Hand. Das ergibt zwar eine interessante musikalische Melange, den hohe Grad an Innovation, welchen sie etwa mit „Kala“ an den Tag legte, erreicht sie diesmal nicht.

Fazit: Wenn  mit „AIM“ nun tatsächlich M.I.As letztes Album vorliegt, fällt die Enttäuschung doch groß aus. Klingt ein krönender Abschluss einer außergewöhnlichen Karriere definitiv anders. Musikalisch zwar interessant, aber textlich unklar, nahezu schlampig. In seinen stärksten Momenten ist „AIM“ große Kunst, in seinen schwächsten peinlicher Klamauk. Es wirkt, als hätte M.I.A. sich mit diesem Album zu viel vorgenommen – mit dem Resultat eines halbgaren Werks. Ob M.I.A. nach „AIM“ weniger wütend ist, wird in den nächsten Tagen und Wochen auf Twitter zu beobachten sein. Musikalisch hat sich die Wut in nur einer Handvoll brauchbaren Tracks niedergeschlagen.

2,5 von 5 Ananas