Now Reading
Alien-Sound mit menschlicher Komponente: Arca // Review

Alien-Sound mit menschlicher Komponente: Arca // Review

(XL/VÖ: 07.04.2017)

Für sein drittes Album hat sich Alejandro Ghersi aka Arca eine besondere Überraschung überlegt. Denn anders als auf den Vorgängern „Xen“ und „Mutant“ beschränkt sich der gebürtige Venezolaner nicht mehr nur auf die Erschaffung eisiger elektronischer Klangwelten, sondern bringt mit einem zerbrechlich-zarten Falsett einen neuen Faktor ins Spiel. Gänzlich Neuland betritt Ghersi damit aber nicht, versuchte er sich bereits während seiner Jugendjahre in Caracas beim Electro-Pop-Projekt Nuuro als Sänger. Der Rat zu einer Rückbesinnung auf diese Wurzeln kam übrigens von seiner oftmaligen musikalischen Partnerin und Freundin Björk. Die erkannte sein gesangliches Potential – und Arca tat gut darin, ihren Ratschlag zu befolgen.

Denn mit Gesang kreiert Arca eine menschliche Komponente in seiner Musik, die dem futuristischen Alien-Sound entgegentritt. Für zusätzliche Intensität sorgt die Entscheidung, nicht wie bei Nuuro auf Englisch, sondern in der Muttersprache Spanisch zu singen. Bezweckt diese Sprache eine psychologische Rückkehr zu den einschneidenden Momenten seines Lebens, insbesondere zur Trennung seiner Eltern. Ein Umstand, erklärend für die enorme Gefühlsdichte und emotionale Schwere, die das selbstbetitelte Album von der ersten Sekunde an auszeichnen. So spart schon der Einstieg „Piel“ nicht an einer Expressivität von Schmerzen und Qualen, die akustisch in einem wiederkehrenden Klirren ihre Darstellungsform finden, zugleich aber stete Momente der Linderung erfahren. Gewohnt langsam geht dabei der Spannungsaufbau vor sich, treibender Bass und melodische Einsprengsel umrahmen den Gesang Arcas, der in fünf Versen das Sujet der Häutung aufgreift – eine Metapher für Befreiung und Wiedergeburt sowie überzeugendes Credo an Aufbruch und Veränderung.

Symboliken der Stärke und Entschlossenheit lässt Arca auch in der folgenden Piano-Ballade „Anoche“ einfließen, die nicht nur eine Björk-Referenz aufweist, sondern auf kryptische Weise eine Annäherung zum Themenkomplex Sexualität darstellt. Rasselgeräusche und dissonante Akkorde leiten „Saunter“ ein, das mit der lyrischen Aufforderung, jemand möge Arca endlich die Haut von gestern abnehmen („Quítame la piel de ayer“), aufhorchen lässt. Gemeinsam mit „Urchin“, von gewohnt kühlen Synthies, Störgeräuschen und Industrialklängen getragen, aber in letzter Konsequenz nicht mit der Brachialgewalt eines „Vanity“ gesegnet, bietet „Saunter“ das Vorspiel zu einem der beiden Standout-Tracks der Platte: „Reverie“, dessen Lyrics vom Track „Caballo Viejo“ des venezolanischen Folk-Sänger Simón Díaz übernommen wurden, exerziert ausgeklügelte Dramatik, geprägt von hektischer Perkussion und Arcas opernhafter Attitüde.

Nach einer kurzen Ruhephase läuten peitschende Klänge auf „Whip“ das zweite große Highlight der Platte ein: Mit „Desafío“ liefert Arca eine sehnsuchtsvolle Ballade mit packendem Chorus, ein emotionales „Listo o no/Hay un abismo dentro de mí“ („Bereit oder nicht, da ist ein Abgrund in mir“) wird über ein Klanggerüst aus Sirenen und den gewohnt markanten Störgeräuschen geschmettert. Mit ruhigen, fast schon träumerischen Sequenzen, in denen Synthies und Gesang streckenweise zu einem einzigen Element verschmelzen, arbeitet Arca zum Finale des Albums hin. Ein Finale, das mit dem instrumental gehaltenen „Child“ wieder deutlich stürmischer ausfällt und damit gekonnt den Bogen zum Intro spannt.

See Also

Fazit: Den Höhepunkt seines bisherigen künstlerischen Schaffens legt Arca nun mit seinem selbstbetitelten dritten Album vor. Als zentral erweist sich die Entscheidung, zum ersten Mal selbst auf Gesang zurückzugreifen. Obwohl Arcas stimmliches Niveau nicht immer mit seinen Produktionen mithalten kann, verleiht der Gesang den Tracks einen ganz neuen, nämlich menschlichen, Touch. Mechanische Kälte in Form harter, kalter Synthies, Störgeräuschen, antreibender Perkussion und lärmenden Industrial-Elementen bekommt so mit zartem, zerbrechlichem, opernhaftem Gesang einen ausdrucksstarken Gegenpol. Dass Arca besonderes Augenmerk auf Kontrastbildung legt, bewies er schon auf „Mutant“. „Arca“ verbindet nun die prägnantesten Elemente von „Xen“ und „Mutant“ und lässt Raum für Neues, den Arca voll auszunutzen weiß. Das Ergebnis spiegelt sich in faszinierender, facettenreicher Musik wider, die an Emotionalität nicht spart.

4,5 von 5 Ananas