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Ein Erfolg des Alleinseins: Kelly Lee Owens mit “Inner Song” // Review

Ein Erfolg des Alleinseins: Kelly Lee Owens mit “Inner Song” // Review

Cover zu "Inner Song" von Kelly Lee Owens
(Smalltown Supersound/VÖ: 28.8.2020)

Für die walisische Produzentin und Singer-Songwriterin Kelly Lee Owens waren die drei Jahre nach ihrem furiosen, selbstbetitelten Debüt mit großen psychischen Herausforderungen verbunden. In dieser Zeit musste sie nicht nur mit dem schmerzhaften Ende einer Beziehung, sondern auch mit dem Tod ihrer geliebten Großmutter umgehen. Und dann folgte als letzte Etappe das Ausnahmejahr 2020. Corona malträtiert alle Seelen, aber die Künstler*innen-Seelen ganz besonders. Statt Auftritte und Partys gibt es einen gezwungenen, aber rational nachvollziehbaren Rückzug in den Biedermeier. Für jemanden, der im Bereich der elektronischen Musik unterwegs ist, dennoch eine sehr unbefriedigende Situation. Eigentlich.

Freigeist Kelly Lee Owens machte sich jedoch schon vor dem Lockdown viele Gedanken zum Motiv des Alleinseins. Bei ihr verschwindet auch die negative Konnotation, „alone“ wird bei der Waliserin zu „all one“. Alleinsein kann schließlich eine Quelle der Kreativität sein. Das wusste schon Franz Kafka, der einst behauptete: „Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins“. Dieser Zugang ist auch Kelly Lee Owens nicht fremd und steht im Zentrum ihres zweiten Albums „Inner Song“.

“Inner Song” nimmt dabei die Form eines musikalischen Mosaiks ein. Der Titel ist dem gleichnamigen Album (1972) der Free-Jazz-Koryphäe Alan Silva entlehnt, die Songs behandeln Empfindungen und Themen, die Kelly Lee Owens in den vergangenen Jahren beschäftigten. Mosaik auch, da sich Owens keine Genre-Grenzen setzte. Techno/Tech-House und Dream-Pop bilden zwar erneut die Grundpfeiler. Doch auf “Inner Song” inkorporiert die ehemalige Hilfskrankenschwester unter anderem auch Elemente aus dem Trip-Hop oder dem R’n’B (womit sie nicht gänzlich Neuland beschreitet, wie ihr 2017-Cover zu Aaliyahs “More Than a Woman” zeigt). 

Die einzelnen Steinchen sind auf „Inner Song“ entsprechend abwechslungsreich gestaltet, ergeben aber ein stimmiges Gesamtbild: Der Opener “Arpeggi” ist ein recht simpler (Synthie-Loops, reduzierter Beat), aber effektiver Rework des Radiohead-Songs “Weird Fishes/Arpeggi” aus 2007. “On” mit verborgenem Zug-Sample wandert vom nebelverhangenen Tal der Melancholie den Berg hinauf und mutiert an dessen Spitze zu einem punchenden Techno-Kracher. Dass Kelly Lee Owens das Spiel mit Gegensätzlichkeiten beherrscht, zeigt sie auch auf „Night“, pendelt der verworrene, phasenweise Trance-artige Track mit der zentralen Zeile „It feels so good to be alone“ stimmungstechnisch zwischen Einschlaf-Phase und Euphorie. “L.I.N.E.”, das für “Love is not enough” steht, ist bitterer Herzschmerz-Pop, “Jeanette”, gewidmet der Großmutter, atmet hingegen reichlich 80er-Jahre-Videospiel-Luft.

Mit “Re-Wild”, aber vor allem mit “Melt!” setzt Kelly Lee Owens Statements zum Klima-Wandel: Auf dem hypnotischen Dancefloor-Banger “Melt!” hat Kelly Lee Owens das Techno-Instrumental mit Aufnahmen von schmelzenden Eisbergen und Menschen, die mit Schlittschuhen über dünnes Eis gleiten, angereichert. Für Owens ist dieser Sound-Schnipsel eine Metapher, wo wir uns gerade als Gesellschaft befinden, wie sie im Interview mit dem News-Sender France24 erzählte. Es fällt schwer, ihr zu widersprechen.

Eine große Qualität auf “Inner Song” ist Kelly Lee Owens‘ Stimme. Die ist diesmal deutlich präsenter als auf dem Erstling und verschafft den Soundlandschaften eine zusätzliche emotionale Tiefe. In diversen Interviews erklärte Kelly Lee Owens, dass Four Tet hinter der Entscheidung, mehr auf ihre Stimme zu setzen, steckt. Ein guter Ratschlag, werden Songs wie “L.I.N.E.”, “Re-Wild” oder “Wake-Up” durch ihr Organ getragen.

Für “Corner Of My Sky” überließ Kelly Lee Owens den Vokal-Part aber einem prominenten Kollabo-Partner. Der Song mit Parts auf Walisisch ist eine Zusammenarbeit mit John Cale, Gründungsmitglied von The Velvet Underground. Der legt einen altersweisen, erwartet unkonventionellen Auftritt hin. “Corner of My Sky” mit Cale ist die Krönung eines Albums, das sich nahe an der Perfektion bewegt. Jedes Detail ist akribisch arrangiert. Wie Kelly Lee Owens mit Rhythmen, mit Layern spielt, ist bemerkenswert. Das Ergebnis ist ein in Worten und Tönen großes Album.

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Fazit: Mit “Inner Song” liefert Kelly Lee Owens einen eindrucksvollen zweiten Longplayer. Wie selbstverständlich bewegt sie sich zwischen verschiedenen Genres, ihre Stimme fungiert dabei nicht nur als Kitt, der alles zusammenhält, sondern rückt in den Mittelpunkt. “Inner Song” ist eine Sinnsuche, ausgedrückt in zehn Tracks. Ein sehr persönliches, emotionales, bewegendes Stück Musik – und ein Erfolg des Alleinseins.

4,5 von 5 Ananas