"The hardest thing to do is something that is close…
Etwas tun, obwohl man genau weiß, dass die Konsequenzen furchtbar sein werden – und dennoch nur mit einem lakonischen „So it goes“ reagieren, wie die Figuren in „Slaughterhouse-Five“ (1969) von Kurt Vonnegut bei unausweichlichen Katastrophen und Verlusten. Dieser von Sarkasmus getränkte Blick auf das Unvermeidliche begegnet einem auch auf „morgen werde ich mich dafür hassen“, der neuen EP des Erfurter Rappers und Filmemachers dissy (bekannt etwa durch „Risse“, eine Kollaboration mit grim104).
Auf der knapp 21-minütigen EP, dem Nachfolger seines „Schattentape“ aus dem Vorjahr, nimmt der Mittdreißiger die Hörenden mit auf eine musikalische Reise durch eine durchzechte Nacht. Platz finden darin Themen wie Mental Health („nebel“), Eskapismus („fun“), zwischenmenschliche Toxizität („nasty“) oder wandelnde Beziehungen („mein bre“).
dissy erinnert an Wim Wenders
Zu den Standout-Tracks zählt „mein bre“, das vom Auseinanderdriften zweier ehemaliger Freunde erzählt – mit einer klaren politischen Dimension: Während dissy links geblieben ist, hat sich der frühere beste Freund zum AfD-Wähler entwickelt. Heute sieht er in dissy nur noch einen Feind, wie im postpunkigen Song nüchtern konstatiert wird: „Du konntest mich am besten vеrsteh’n/Damals haben wir die Wеlt nicht gekannt/Aber heute bin ich dein Feindbild/Unsre Zeit ist passé“. „mein bre“ hat das Potenzial, vielen als Identifikationsfläche zu dienen, die ähnliche Formen der Entfremdung erlebt haben – nicht zuletzt während der Corona-Jahre, in denen so manche vertraute Beziehung zerbrach.
Ebenfalls herausragend ist „flügel dunkelblau“ mit einem Gänsehaut-Chorus von Mirabelle Rose. Der melancholische, sehnsuchtsvolle Song weckt Assoziationen an Wim Wenders’ Filmklassiker „Der Himmel über Berlin“ (1987), in dem Engel das Leben der Menschen in einer geteilten Stadt beobachten und sich nach Nähe sehnen. „flügel dunkelblau“ handelt vom Verweilen zwischen Welten, von Einsamkeit und von der Hoffnung auf eine bleibende Verbindung: „Wenn das so ist, hoff’ ich, ganz egal wie abgefuckt ich bin/Dass du mich nicht vergisst und dass ich dich immer find’.“ Damit erinnert der Song an die zentrale Beziehung zwischen dem Engel Damiel und der Trapezkünstlerin Marion im Wim-Wenders-Film.
Atmosphärische Nachtreise
Musikalisch vereint „morgen werde ich mich dafür hassen“ UK-Garage-Grooves, Alternative-HipHop-Beats und punkige Gitarren zu einem rohen wie atmosphärischen Soundbild. „nebel“ klingt minimalistisch und verhallt, „fun“ druckvoll und tanzbar (erinnert an die Young Fathers) und „nasty“, das mit einem speckigen Gitarrensolo ausklingt, romantisch-verträumt. Über allem liegt ein nächtlicher Vibe, der die gesamte EP durchzieht. „morgen werde ich mich dafür hassen“ ist wie eine grell leuchtende Reklametafel, die die anthrazitfarbenen Hochhäuser ringsherum erhellt.
Fazit
„morgen werde ich mich dafür hassen“ ist der Sound einer Nacht, verdichtet auf sieben Songs und zwei Interludes. Thematisch wie musikalisch ist dissys Streifzug durch die Nacht packend inszeniert; so packend, dass man sich nur eines wünschen würde: diese Nacht auf Albumlänge zu erleben.

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