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Bewegende Nocturne von grim104: „Ende der Nacht“ // Review

Bewegende Nocturne von grim104: „Ende der Nacht“ // Review

Die Nacht fasziniert den Menschen seit Anbeginn. Einerseits wird sie gefürchtet: Sie wird mit Grusel, mit wilden Kreaturen und Wesen assoziiert. Sie ist die bevorzugte Zeit des Verbrechens, wie in Martin Scorceses „Taxi Driver“ (1976), wo es heißt: „All the animals come out at night, wh*res, skunk p*ssies, buggers, queens, fairies, dopers, junkies, sick, venal“.  Andererseits steht die Nacht im Zeichen der Freiheit. Im Dunkeln der Nacht können wir uns verwandeln, mit Konventionen brechen. Nichts erscheint unmöglich in den Stunden nach dem Sonnenuntergang. Kein Wunder, dass der Nacht bisweilen magische Fähigkeiten zugeschrieben werden.

grim104 mäandert durch die Nacht

Diesen magischen Stunden zwischen „Sechs und Sechs“ widmet sich grim104 (35) auf seinem dritten Solo-Album „Ende der Nacht“. Wie Paul Souvrault in Henri Thomas‘ Roman „London Nights“ (1956) mäandert er dabei durch die vom Vollschatten verhüllte Welt – zumindest über weite Strecken des Albums. Für grim104 ist „Ende der Nacht“ ein weiteres, wenn auch loses Konzept-Album, nachdem es in „Das Grauen, das Grauen“ (2019) um Horror ging (auch bekannt als der Wohnungsmarkt in Berlin, zu hören in „Hölle“) und er sich in „Imperium“ (2022) dem Vanitas-Motiv annahm.

Eröffnet wird das Album mit dem stimmungsvollen „Radio Grim“. In der Imagination des Hörenden sitzt grim104 hier in seinem Radio-Kämmerlein, dick eingehüllt von Rauch-Schwaden. „Radio Grim“ enthält detaillierte Situationsbeschreibungen des Treibens in der Nacht, vorgetragen auf gespenstischer Sound-Kulisse mit Field-Recordings-Flavor. Das Gehirn des Hörenden vernimmt die beschriebenen Gerüche vom Großmarkt, die sich mit denen des Bluts und Chlors von Notarzteinsätzen vermischen. Das ist unheimlich, wie die Nacht eben ist. Es schmerzt aber nicht. 

Freundschaft im Säurebad

Das ändert sich dann mit „Sterne“, dem ersten Schlag in die Magengegend. Bedrohliche Synthies aus der Silkersoft-Schmiede begleiten grim104 dabei, wie dieser eine Geschichte aus Jugendtagen hervorkramt. Es geht um den letzten gemeinsamen Sommer mit den alten Dorf-Freunden im Alter von 18 Jahren, bevor sich das Männer-Bündnis auflöst „wie im Säurebad“. Einen Sommer später sollten diese Freunde deutschlandweit in die Schlagzeilen kommen – weil sie einen Rollstuhlfahrer aus Geldgier ermordeten.

Mit der tragischen Climax, aber auch mit dem Bezugspunkt zur Nacht weckt „Sterne“ Assoziationen an Pier Paolo Pasolinis „Ragazzi di Vita“ (1955) – nur verschluckt bei Pasolini der Tiber den Menschen. Das Video erinnert hingegen an eine Dark-Version des Fatih-Akin-Road-Movies „Tschick“ (2016), in dem es ebenfalls um eine kurze, wenngleich intensive Freundschaft geht.

Apokalypse und Nepo-Babys

Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht“, heißt es in „Menschen bei Nacht“ (1899) von Rainer Maria Rilke – und dieses Stimmungsbild malt grim104 in „Stadtfuchs“, das von einer Begegnung mit einem Fuchs in urbaner Umgebung handelt. Einsam trottet der Fuchs durch die verlassenen Straßen, ähnlich wie in Voodoo Jürgens‘ Video zu „Tulln“ (2016). Der Fuchs trifft auf grim104, der gerade von einer Bar ausgespuckt wurde und den Nachtbus verpasst hat. Melancholie schwebt über diese Szenerie; Melancholie, die sich im Kollisionskurs mit den 90er-Jahren-EDM-Elementen befindet, die Silkersoft und Nvie Motho einen auf „Stadtfuchs“ auftischen. How much is the fox?, fragt man sich.

Weniger melancholisch fällt der Trennungssong „Ende der Welt“ aus: Auf einem Hyperpop-Beat von UHD wünscht sich grim104 die Erfüllung der Johannes-Offenbarung (in der 2023er-Version), damit es doch nicht zum Beziehungsende kommt. Das ist ebenso witzig wie „Nepo-Baby“, ein typischer Zugezogen-Maskulin-Song, bei dem nur der Part von Testo fehlt.

grim104 im Flex Café
(c) Alex Gotter

Doch was sind nun Nepo-Babys? Der Begriff war 2022 auf Twitter, als es noch Twitter hieß, für einige Wochen sehr populär – das renommierte New York Magazine widmete den Nepo-Babys sogar eine Cover-Story. Der Begriff bezeichnet Menschen, die sich dank Vetternschaft, auch Nepotismus genannt, eine Karriere aufbauen konnten – also Promi-Kinder, die von den diversen Formen des Kapitals ihrer Eltern profitierten.

Mit „Indie-Band-Sänger, Indie-Band-Sänger*innen/Erzählen‘ dir was von Indie, doch häng’n in Netzen wie Spinnen/Erzählen dir was vom Breakdowns, ihren Krisen und Qualen/Aber mussten dabei noch nie selber Miete bezahl’n“ bringt es grim104 auf den Punkt. Es ist weiterhin ein Vergnügen, grim104 dabei zuzuhören, wie er der Bourgeoise die Tarnung vom Leibe reisst. Er erkennt schließlich den Rimowa-Koffer.

Zwischen Hedonismus und Hilflosigkeit

Den Nacht-Faden nimmt grim104 dann wieder mit „Risse“ auf, für das Nvie Motho die ikonischen Synthies aus „Born Slippy“ (1995) von Underworld sampelte – und DISSY auf dem Song den Karl Hyde gibt. Das Ergebnis ist ein Hedonismus zelebrierender Rave-Song, der an Mike Skinners Party-Erzählungen erinnert.

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Auf den Disco Pogo folgt der zweite richtig schmerzhafte Song des Albums. „Stirb nicht heute“ heißt der zweite Schlag in die Magengegend. Hier setzt sich grim104 mit den Gefühlen auseinander, die eine tragische Nachricht in ihm auslöst: Es geht um den kritischen Gesundheitszustands eines geliebten Menschens und grim104s Verlangen, den Tod von dieser Person zu „verscheuchen“.

Dank grim104s dichter Beschreibung läuft ein Film vor dem inneren Auge ab. Seine Hilflosigkeit in dem Moment, als ihn der Anruf der Klinik ereilt, ist regelrecht spürbar – alles eingebettet im Dunkel der Nacht: „Dann der Anruf in der Tram/Krankenschwester nebenan/Ich hoff‘ dein Atem bleibt noch lange Jahre warm“. Gänsehaut.

Nach „Stirb nicht heute“ geht es gemächlicher zur Sache. Das verträumte „Butter Chicken“ fängt spätnächtliche Studio-Atmosphäre ein und erinnert musikalisch ebenso an kontemporäre Indie-Rap-Heros der Marke MIKE wie das vom Traum des Aussteigerlebens handelnde, mit grandiosen Lines gespickte „Ted Kaczinsky, Paris Hilton“: Der Song mit den zwei Extremen im Titel – einerseits der UNA-Bomber, andererseits das ehemalige It-Girl, bei denen grim104 jeweils eine Verbindung zum „Simple Life“ entdeckt – ist schließlich das Vorspiel zum Closer, dem Titeltrack „Ende der Nacht“.

Bei dem fällt der Sound wieder elektronisch aus: Auf einem House-Beat von AsadJohn und mit Unterstützung von Paula Engels und Ton-Steine-Scherben-Referenz in der Hook wandert grim104 der weichenden Dunkelheit entgegen. Der passende Schlusspunkt zu einem Album, auf dem grim104 wieder einige der stärksten Deutschrap-Songs des Jahres geliefert hat. 

Fazit

grim104 bietet auf seinem dritten Solo-Album „Ende der Nacht“ wieder eine Reihe von Momenten, die einen ins Staunen versetzen, die einen emotional richtig packen – besonders „Sterne“ und „Stirb nicht heute“ ragen heraus. Mitreissendes Storytelling kombiniert mit dem für grim104 typisch bissigen Humor und ein überwiegend elektronisch geknüpfter Instrumental-Teppich fügen sich zu einem Album zusammen, das die Magie und den Schrecken der Nacht gleichermaßen einfängt.

4 von 5 Ananas