Es bedarf viel Zeit, blättert man sich durch die Diskografie von Sierra Kidd. Zwischen seinem Debütalbum „Kopfvilla“ und seinem jüngsten Werk „Naosu“ liegen acht Jahre, acht Studioalben und unzählige Songs. Es ist nicht nur Kidds musikalische Entwicklung, sondern zugleich seine persönliche, die ihn im Lauf der Zeit immer wieder hervorstechen lassen hat. Es ist, wie sein Künstlername unterstreicht, als Jugendlicher in die Öffentlichkeit zu gelangen und in genau dieser schließlich erwachsen werden zu müssen. Es sind die Fortschritte, die Fehltritte, die seit acht Jahren von ganz Rapdeutschland beobachtet und analysiert werden. Galt Kidd für seine Fans als Pionier seiner Zeit, wollten ihm andere Teile der Szene nie einen Platz freiräumen. Sein neues Album „Naosu“ behandelt genau diese Thematiken – es geht ums Erwachsenwerden, um Erfolge, um Gefühle.
Ich weiß, wie’s sich anfühlt zu fallen und ich weiß, wie es ist wenn man fliegt bis ins All / Ich weiß, wie es ist wenn man liebt und ich weiß wie es ist, wenn die Liebe nicht bleibt / Ich weiß, wie es ist wenn du Geld hast und du immer zahlst, weil die Freunde haben nix / Und ich weiß, wie es ist wenn du nix hast und dann keiner da ist, weil du eine Last bist
Sierra Kidd auf „weiter“
„Naosu“ ist ein japanischer Begriff, der übersetzt „Heilung“ bedeutet. Die Annahme, dass Artists ihre Musik als Ventil benützen ist weitverbreitet und erscheint nicht neu, was bei Kidd jedoch auffällt ist seine stetige Ehrlichkeit seinen Lebensumständen sowie seiner mentalen Gesundheit gegenüber. Ist er auf einem Höhenflug, lässt er es seine Fans genauso wissen wie wenn er am Boden liegt. Genau diese Immer-Wieder-Aufstehen-Mentalität nimmt auf „Naosu“ eine prägnante Rolle ein – „Früher nicht mal Geld für zu trinken, heute schenken wir uns Rolis an Releasedates / Immer noch weit weg von reich sein, aber genug Cash um zu flexen“, heißt es auf dem Openingsong.
Auf dem gesamten Album schafft es Sierra Kidd, die Balance zwischen Deepness und Flexen zu halten. Mental Health ist eben nicht schwarz-weiß. Wer Rolex trägt und Benz fährt ist nicht automatisch frei von Sorgen, wer psychische Probleme hat ist im Umkehrschluss nicht direkt am Boden oder nur im Bett. Auf den 16 Songs zeichnet sich ein kontinuierliches Auf und Ab der Gefühle ab, wodurch zugleich deutlich wird, dass Kidd weitaus mehr ist, als sein bei wohl machen in den Köpfen verankertes Image als „Emo-Rapper“. Was auf „Naosu“ auffällt ist die Bodenständigkeit, die Reflexion von Sierra Kidd sich selbst, seinem Werdegang und seinen Emotionen gegenüber. Zwischen Realtalk und Realness bewegt sich Kidd mit einer angenehmen Leichtigkeit. Weder inhaltlich noch soundtechnisch klingt hier irgendetwas erzwungen, viel mehr wirkt es so, als wären die einzelnen Songs Momentaufnahmen seiner Gefühle und Gedanken.
Die Welt ist gar nicht so schlimm, wie du denkst / Klar, gibt es Tiefs, aber dann kommen die Hochs / Und du hast es verdient, noch ein paar zu erklimmen
Sierra Kidd auf „blessings“
Die Songs sind dabei ein Wechselbad der Gefühle, heißt es auf „wann hört der schmerz auf“: „Fünfhundert PS sind viel zu schnell für einen Menschen, der Tabletten verschrieben kriegt um das hier nicht zu beenden“. Auf „gecko moria“ erzählt Sierra Kidd von seinem Treffen mit Xatar und davon, dass er das Essen mit seiner Visa-Karte bezahlt. Auf seinem Album spricht Kidd von ebendiesen Höhen und Tiefen, von all den Farbabstufungen zwischen schwarz und weiß. Von Träumen, die er sich erfüllen konnte, aber auch davon, dass Geld, Designermarken und Vorschüsse von Labels nicht alles sind, dass man für seinen Erfolg meist kämpfen muss. Mal erinnern Songs von „Naosu“ musikalisch an XXXTentacion, mal könnte man aus den Songtexten Motivationssprüche ziehen. Es ist eine inhaltliche und soundtechnische Vielfalt, die dennoch stimmig ist. Denn auch wenn Kidd mal happy, mal traurig wirkt, mal bodenständig, mal leicht überheblich ist es genau das, was dieses Album so eindrucksvoll macht – Kidds kontinuierliche Ehrlichkeit.
Mein erstes Label aufgemacht, da war ich minderjährig / Und ihr Pisser wisst noch nicht mal, was die GVL ist / Korrekt, ihr kauft Balencis und ich bau Paläste / Ich kam hier hin von ganz allein, uns wollte keiner helfen / Ganz egal wie tief die Krisenzeiten auch sind / Ich rette den Familienstammbaum, Bitch
Sierra Kidd auf „feuerwerk“
Fazit: Sierra Kidd, der sich seinen Platz in der Szene so hart wie kaum ein anderer über Jahre hinweg erkämpfen musste, hat mit „Naosu“ ein Lebenswerk erschaffen. Vielleicht bedarf es ein Erwachsenwerden unter ständiger Beobachtung der Öffentlichkeit, um schlussendlich so reflektiert sein zu können, wie Kidd es auf seinem Album ist. „Naosu“ manifestiert auf eine subtile Art und Weise seine Kämpfermentalität und zeigt, wie hart, aber zeitgleich auch wie besinnlich die persönliche und musikalische Weiterentwicklung sein kann. Es ist das Gefühl verstanden zu werden, das Gefühl von Hoffnung und zu guter Letzt das Gefühl von Stolz. Ein jahrelanger Kampf, der vielleicht nun endlich gewonnen wird.
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