Zeichen setzen mit Zeichensätzen. Mag Rap, Reisen und gutes Essen.
Unbemerkt von einem großen Teil der Deutschrapszene erschien vor knapp einem Monat das Debütalbum von Goldroger. „Avrakadavra“ markiert nach seiner ersten EP „Sperensken“, die nach dem MOT irgendwie aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist und dem Mixtape „Räuberleiter“, welches vergangenes Jahr erschienen ist, die Emanzipation vom bloßen Konzept-Rap. Goldie, wie er sich auch liebevoll selbst nennt, hat eine gewaltige Entwicklung durchgemacht. Schon nach ein, zwei Nummern wird klar, dass es sich hier um alles – nur kein klassisches Rap-Album handelt. Der Mann, der das Moment of Truth 2014 für sich entscheiden konnte, pendelt zwischen Rap und Gesang, die Begleitung ist organisch und melodiös, die Texte beschäftigen sich auf herrlich unprätentiöse Art mit der Jugend in einer Zeit wie dieser. Erfrischend.
Los geht die zauberhafte Reise mit „MK Ultra“. Goldroger erzählt mehrere Geschichten gleichzeitig und bastelt so unbeschwert Übergänge zwischen ebenjenen, dass man unaufmerksam gar nicht bemerkt, dass es nicht bloß eine ist. Bereits der Opener verdeutlicht die Stärke und Besonderheit des Langspielers: Akustischer Sound und sämtliche Regeln ignorierende Texte verdichten sich zu einem traumgleichen Erlebnis, das kaum konkreter zu beschreiben ist. Muss man eben hören. Mit „Unter Nelken“ folgt der vorweggenommene Titeltrack, eine Ode an das Anders-Sein, aber natürlich nicht ohne Augenzwinkern. Goldroger schafft den Spagat zwischen Abgrenzung und dem Bewusstsein über die relative Gleichheit.
Als Oma mir sagte:
Sohn, lern doch bitte dich zu benehmen,
Frau Hafner, die sitzt am längeren Hebel,
Ich sagte und? Ich sitz doch auf einem Thron
– Gold Roger in „Unter Nelken“
Teilweise sind Texte derart verziert und verschachtelt, dass man dem MPM-Signing nicht gänzlich folgen kann. Das stört aber nur begrenzt, denn das, was man mitbekommt, gefällt – jedenfalls wenn man offen gegenüber Musik abseits ausgetretener Pfade ist. Verblüffend ist auch die Ehrlichkeit, mit der Goldie seine Themen behandelt. „Friede den Hütten“ ist als poetisches Gegenstatement zu Winston Churchills „Wer mit 30 noch Sozialist ist“-Zitat zu verstehen. Anschließend folgt mit „Perwoll“ eines der Highlights der Platte. Der Verzicht auf Klischees, notwendige Grundvoraussetzung für funktionierende Rap-Nummern über die Liebe, bedeutet in diesem Fall nicht, dass es an Identifikationspotenzial mangelt. Gleichzeitig hat man das Gefühl, tiefer in das Seelenlebens des Künstlers zu blicken, als man sollte.
„Sgt. Pfeffer“, „Bemale den Mond“ und „M.I.D.A.$.“ setzen den lyrischen Tanz zwischen smoothen Gitarrenriffs und sanften Drums fort, wobei letzterer auch schnellere Flows und komplexere Reimketten offenbart. Track für Track ist man sich sicherer, dass hier jemand eine Menge Zeit in sein Album investiert hat. Doch Goldroger gibt sich nicht mit ein paar beschwingten Nummern und einem Liebeslied zufrieden. „Harry Haller“ wagt den Blick auf den Freitod. Die Verzweiflung im Vordergrund des Tracks wird aber von Selbstironie und Selbstzweifeln aufgemischt, um es dem Hörer nicht zu einfach zu machen. Auch wenn die Live-Version noch ein Stück mehr berührt – ein beeindruckend reifes Musikstück.
Und ich könnt ja ’ne Glosse schreiben für die Zeitung,
mit dem Titel volkswirtschaftlicher Kosten-Nutzen des Freitods,
wende mich hoffnungssuchend ans iPhone,
als die Bahn einfährt, frag Siri, mit Kopfsprung oder mit Salto?
– Gold Roger in „Harry Haller“
Wer jetzt noch ein bisschen elektronischen Klang vermisst, bekommt ebendiesen mit „Lachen und Vögeln“ serviert. Auch hier wird zelebriert, was die Platte stark macht: Der Verzicht auf Plastik. Man erkennt durch den Nebel diversester Reimwolken zwar die Kontur einer Storyline, ist sich am Ende aber doch nicht sicher, ob sie tatsächlich das ist, wofür man sie gehalten hat. Und Goldroger ist noch nicht am Ende seiner Reise. „7 Meilen“ folgt dem Grundschema des, schon einige Male gehörten, Ausbruch-aus-dem-Alltag-Tracks, aber irgendwie schafft der Rapper mit dem eigensinnigen Stil auch daraus seine eigene Nummer zu machen. Schön rund. Den krönenden Abschluss stellt „Delphin“ (ja mit „ph“) dar. Eine erstaunliche Platte bekommt einen sehr persönlichen Schlusspunkt sowie ein großartiges Gitarrensolo. Was aber vor allem hängen bleibt sind Zeilen wie: „Schule war für mich wie Veganer sein beim Ziegenschächten„. Das Album ist übrigens auch als Live-Semi-Akustikversion erhältlich.
Fazit: Mit seinem Debütalbum „Avrakadavra“ gelingt Goldroger ein absolut außergewöhnliches Album. Neben enormer musikalischer Bandbreite und Poesie en masse, gibt es Thementracks, Traumsequenzen, Selbstzweifel und Das-Leben-feiernde-Freudentexte zu bestaunen. Das Ganze kommt mit so viel Ehrlichkeit und Herzblut daher, dass man es mehrmals hören muss, um es annähernd fassen zu können. Faszinierend ist neben der Leichtigkeit, mit der Goldroger tiefgründige Texte von der Hand zu gehen scheinen, auch, dass sein Werk – wohl eher unbeabsichtigt – ein viel größeres Publikum ansprechen könnte, ohne dabei auch nur ansatzweise poppig zu sein. Man hofft, dass „die Szene“ die notwendige Offenheit mitbringt, um dieses Werk würdigen zu können. Ein großartiges Album.
Im Rahmen seiner „Avrakadavra“-Tour 2017 kommt Goldroger auch für vier Termine nach Österreich: Am 2. März 2017 ins Rockhouse Salzburg, am 3. März ins P.P.C. Graz, am 4. März ins Wiener Flex und am 6. März spielt er noch im Weekender in Innsbruck.
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