"The hardest thing to do is something that is close…
Für die Produktion seines dritten Solo-Albums „Cenizas“ (spanisch für „Asche“) wählte der chilenische Tonkünstler Nicolas Jaar nicht nur den Weg in die Isolation. Er gab sich auch der Askese hin. Kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Koffein, kein Fleisch, so lautete die Vorgabe. Dieser innere Reinigungsprozess, verbunden mit einem Freimachen von negativen Gefühlen, sollte sich in „Cenizas“ musikalisch ausdrücken. Ein positiv klingendes Album ist „Cenizas“ aber nicht. Es ist ein düsteres Album. Jedoch mit lichten, hoffnungsvollen Momenten: Als wolle Jaar zeigen, dass es selbst in der finstersten Stunde Hoffnung auf Besserung gibt. Damit nährt Jaar ein globales Bedürfnis. Hoffnung ist angesichts der momentanen unsicheren Weltlage schließlich gefragt.
Wenngleich Nicolas Jaar die Ruhe schätzt: Um seine Person kehrte in den Jahren nach seinem 2016 erschienenen Album „Sirens“ keine ein. Sein Aktionsradius war in den vergangenen Jahren groß. In den Niederlanden und den Vereinigten Arabischen Emiraten engagierte sich Nicolas Jaar mit teils spektakulären Sound-Installationen im Bereich der Performance-Kunst. Zugleich arbeitete Jaar an diversen Pop-Alben mit, darunter an FKA twigs’ musikalischer R’n’B-Offenbarung „MAGDALENE“ (wenngleich er hier sein Zutun aus Bescheidenheit verschleiern wollte). Und trotz all dieser zeitverschlingenden Tätigkeiten fand Nicolas Jaar Gelegenheit, unter dem geheimnisvollen Moniker Against All Logic mit „2012–2017“ und „2017–2019“ zwei musikalisch höchst unterschiedliche Club-Projekte zu veröffentlichen.
Diese Vielseitigkeit ist seit dem Debütalbum „Space Is Only Noise“ (2011) ein wesentliches Karriere-Merkmal des Nicolas Jaar. „Cenizas“ bleibt dieser Linie treu, begibt sich Jaar diesmal in Ambient-Gefilde. Es wummert, es knarzt, es klirrt. Doch „Cenizas“ ist mehr als ein Ambient-Album. Nicolas Jaar kreiert mit dem Einsatz diverser Instrumente und seiner Stimme einen spirituellen, esoterischen Trip auf Albumlänge.
Auf gänzlich neuem Terrain begibt sich Jaar damit aber nicht. Der Zugang erinnert dezent an seinem Quasi-Soundtrack „Pomegranates“ (2015), den er für das Meisterwerk des armenischen Filmemachers Sergej Parajanov, „The Color of Pomegranates“ (1969) geschmiedet hat. Dieser Soundtrack enthält ebenfalls wenige Songs im eigentlichen Sinn, sondern ist vielmehr eine Bündelung von Sound-Collagen. Das gilt auch für „Cenizas“.
Meisterhaftes Spiel mit Kontrasten
Wie gewohnt spielt Nicolas Jaar auch auf „Cenizas“ mit Kontrasten. Er vermischt spielerisch laut und leise, Harmonie mit Dissonanzen. Das führt zu seiner Meisterdisziplin, dem Schaffen von atmosphärischen Musikstücken. Exemplarisch dafür steht der gotisch anmutende, mit dezenter Bassline versehene und mit seinem brüchigen Falsett verfeinerte Opener „Vanish“. Ein anderes Beispiel ist der nebulöse, langsam wie ein Prozessionszug vorangehende Titeltrack. Egal, in welche Richtung Jaar seine Sounds führt: Es passiert nie etwas zufällig oder chaotisch. Jedes Element greift ineinander. Diese Akribie ist bei Jaar keine Neuheit. Doch selten klang sein Verweben von Live-Instrumenten und digitalen Sounds so beeindruckend wie auf „Cenizas“.
Stellenweise verwendet er, wie in „Gocce“ (italienisch für „Tropfen“), selbstgebaute Instrumente. Mit diesen Klängen verwirrt er den Hörenden, lässt ihn angesichts der extraterrestrischen Atmosphäre im Unklaren. Dieses Gefühl erwecken aber auch ein Dudelsack in „Xerox“ oder ein Saxofon, das bei den Free-Jazz beeinflussten Tracks „Agosto“ und „Rubble“ zum Einsatz kommt. Die Free-Jazz-Elemente sind überdies eine Verbeugung vor dem Jazz-Virtuosen John Coltrane, dessen Album „Crescent“ (1964) Nicolas Jaar als eine Inspirationsquelle für „Cenizas“ nannte.
„Besser lässt sich das Jahr 2020 musikalisch nicht darstellen“
Trotz der instrumentellen Vielfalt ist Nicolas Jaars bevorzugtes Instrument auch auf „Cenizas“ das Piano. Bisweilen setzt er dieses ganz minimalistisch ein, wie beim von einem Piano-Loop getragenen „Garden“; ein Track, der an „Divorce“ aus „Pomegranates“ erinnert.
Wie ein Instrument handhabt Nicolas Jaar auf „Cenizas“ auch seine Stimme. Die erweist sich als durchaus wandelbar, egal ob im Falsett oder Bariton. Seine Stimme nimmt auf dem Album aber nie eine dominante, sondern stets eine komplementäre Rolle ein und passt sich den mystischen Sounds an. Auch die Lyrics fallen in dieses Muster. Wie auf „Sirens“ gehen die spanischen und englischen Texte in eine politisch-philosophische Richtung. War „Sirens“ eine Aufarbeitung der Pinochet-Ära in Chile, sind die Texte auf „Cenizas“ allgemeiner gehalten und auf verschiedene Weise interpretierbar. Eine Zeile wie „A drunk man’s on the lead/Skies and all bleed“ aus dem psychedelischen „Mud“ oder „A win is a win but a loss is the death of a twin“ aus dem soften, fast schon beschwingten „Sunder“ ist vieldeutig.
Den zugänglichsten Song des Albums packte Nicolas Jaar an das Ende des Albums. „Faith Made of Silk“ hat ein hypnotisches Drum-Pattern, seine Vocals sind klar und verständlich. Der Clou liegt im Spannungsaufbau des Songs. In der Climax bricht Nicolas Jaar die Erwartung einbrechender Breakbeats mit einem der extremsten Elemente, die Musik bieten kann: mit Stille. Besser lässt sich das Jahr 2020 musikalisch nicht darstellen.
Fazit: Wer Vanitas-Gedichte kennt, weiß: Vom Menschen bleibt einzig Asche über. Nicolas Jaar weiß das auch. Auf „Cenizas“ schwingt stets der Gedanke an Vergänglichkeit mit. Das Gemisch aus Ambient, Neo-Klassik, Noise, Psychedelica, Electronica, Drone und Free-Jazz klingt meditativ, spirituell, esoterisch. „Cenizas“ enthält kaum clubfähiges Material und ist sicherlich das am wenigsten zugängliche Album Nicolas Jaars. Aber eines, mit dem er sein großes musikalisches Potenzial fast zur Gänze ausschöpfen kann.
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