1/3 Instrumentals, 1/3 Underground-Deutschrap, 1/3 Emotrap, wo hoid jemand bissi…
Ende März lud Fear le Funk zu einem HipHop-Abend der Extraklasse: Dead Prez, Motion Man sowie Retrogott & Hulk Hodn waren die hochkarätigen Headliner (hier geht’s zum Konzertbericht). Letztere stellten ihr neues Release „Sezession!“ vor und da wir mit Hulk Hodn und eloQuent erst kurz zuvor über den Weltuntergang sinnierten, baten wir den Retrogott allein zum Interview. In den folgenden 40 Minuten geht es um Lyrik, den Wert von Kunst im Zeitalter der industriellen Reproduzierbarkeit, die Musikindustrie und Demut vor dem sozio-kulturellen Erbe von HipHop. Retrogott ist ein Phänomen zwischen aberwitzig rohem Battlerap und genial verkopften Lines, die sich vornehmlich mit den „Psychosen der Gesellschaft“ beschäftigen. Wer den Entbs-Cheflyriker schlecht vorbereitet interviewt, beißt sich an ihm die Zähne aus, denn oberflächliches Gequatsche ist nicht das Seine. Dass man dabei nicht ohne philosophische und kunsthistorische Sidesteps auskommt, unterstreicht die vielen Metaebenen, die sich (nicht nur) durch das neue Werk ziehen.
Interview: Simon Huber & Emil Delivuk
Fotos: Daniel Shaked
The Message: Der Albumtitel „Sezession!“ passt gut zu Wien – Wiener Secession, Abgrenzung, Klimt, der Jugendstil. Ist das etwas, woran du gedacht hast?
Retrogott: Nicht speziell die Wiener Secession, Klimt und damit verbundene Kunstprogramme. Grundsätzlich ist mir der Begriff irgendwann auf zweierlei Ebenen in den Sinn gekommen. Einerseits die politische Ebene, also Abgrenzungsbestrebungen von gesellschaftlichen Gruppen, wie aktuell in der Ukraine, im Baskenland, in Irland oder bei vielen indigenen Gruppen Südamerikas, die nach wie vor einen bitteren Kampf um kulturelles und physisches Überleben führen. Die andere Ebene ist die ästhetische. Ich habe irgendwann gemerkt, dass meine Musik in gewisser Weise eine ästhetische Sezession darstellt.
Spiegelt sich das auch im Cover wider?
Ja, da haben wir ein bisschen mit dem Sujet „The war is over, if you want it“ von John Lennon und Yoko Ono gespielt. Es soll auch ein bisschen an Schlagzeilen erinnern, aber kein Aufruf zu einer konkreten Sezession sein.
Warum siehst du von diesem Aufruf ab?
Meine Beschäftigung ist von meiner extrem starken Skepsis gegenüber Massen getrieben. Ich glaube, dass jede Sezession wieder eine Sezession von der Sezession hervorbringt. Jedes sezessionistische Bestreben ist immer nur ein Moment in einem gesellschaftlichen Prozess. Für mich ist die ästhetische Sezession ein Weg, sich zu distanzieren. Eine Sezession innerhalb der HipHop-Szene, indem ich gewisse Mainstream-Standpunkte nicht vertrete.
Man hat das Gefühl, dass das neue Album einen größeren Bruch zu den anderen Releases mit Hulk Hodn darstellt. Ist es auch eine Abspaltung von eigenen, vorangegangenen Arbeiten?
Ich würde das jetzt nicht als programmatische Entscheidung werten, aber du hast recht, was den Selektionsprozess angeht, um ein Album zusammenzustellen. Die Arbeit mit anderen Leuten an so kleinen EPs hat mich an den Punkt gebracht, ein runderes Ding machen zu wollen. Letztendlich hat das Verlangen danach, eine stringentere Aussage zu transportieren, dazu geführt, dass wir wirklich EIN Album gemacht haben.
Eure Platte ist nur auf Tour und im Entbs-Pop-Up-Store erhältlich. Warum bietet ihr die Platten nur limitiert und für einen kleinen Kreis an?
Was die Stückzahl angeht, ist die Platte gar nicht limitiert. Wir können jederzeit nachpressen. Ob die jetzt auf dem Konzert vergriffen ist, oder bei Amazon gerade nicht lieferbar ist, ist ja nur ein oberflächlicher Unterschied. Die Verkaufsstrategie ist eine bewusste Entscheidung. Aber nicht im Bezug darauf, Menschen auszuschließen oder ihnen das Produkt nicht zugänglich zu machen, sondern eher sich den verwertungsindustriellen Mechanismen zu entziehen, die derzeit den Entstehungsprozess und den Konsumptionsprozess – also das gesamte Kunstwerk – überlagern. Wenn ich mit Hulk Hodn eine Platte mache, dann hat das nicht diesen Vermarktungsrattenschwanz, sondern wir wollen eine Platte machen. Außerdem hatten wir einfach wieder Lust, mehr direkten Kontakt zu den Fans zu haben. Ich hab den Eindruck, viele Rapper weltweit, aber vor allem in Deutschland, haben sich als oberstes Ziel gesetzt, Gold zu gehen. Wir haben uns entschieden, uns keiner Szene anzubiedern, die wir eigentlich nicht als HipHop anerkennen und nicht „sellout“ zu sein. Viele lehnen inzwischen „sellout“ als Kriterium ab, weil sie sagen, jeder will verkaufen, aber ich bin der Meinung, man kann „sellout“ sein, ohne eine einzige Platte verkauft zu haben und man kann dreimal Platin gehen, ohne „sellout“ zu sein.
Was ist dein Standpunkt dazu, dass sich Fans an eurer Arbeit bereichern, indem sie eure Alben Tage später auf diversen Portalen teuer weiterverkaufen?
Wenn wir jetzt einen Gerechtigkeitsdiskurs führen, finde ich das nicht gut, dass Menschen, die die Platten gerne haben wollen, diese zu horrenden Preisen beziehen müssen. Ich sage aber auch, dass man eine Platte für einen gewissen Preis dann auch nicht kaufen sollte. Ich habe nichts dagegen, wenn sie sich die Platte runterladen, aber man kann es da auch nicht allen recht machen. Wir machen keine Majorlabel-Auflagen und manchmal einfach lieber eine ganz neue Platte. Um die Limitierung geht es uns gar nicht.
Gibt es auch eine gesellschaftliche Dimension dieser reduzierten Vermarktung?
Damit praktiziere ich Kritik an den Dogmen der omnipräsenten Verfügbarkeit von allem zu jeder Zeit. Das ist etwas, was viele in der Theorie tun, aber sie halten sich trotzdem an alle Regeln und ich bin der Meinung, es kann eine Platte dann vielleicht auch mal nicht geben und wir haben trotzdem viel Spaß mit den Leuten auf Konzerten und das ist irgendwie das Wichtigste. Und dann gibt’s noch eine kunsttheoretische Ebene in der Frage: Was macht das Kunstwerk aus? Wie kommt das überhaupt, dass Leute denken, eine Platte wäre so viel Geld wert? Wenn wir darüber nachdenken, dass Walter Benjamin vor mittlerweile fast 100 Jahren in der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks eigentlich das Ende der Aura des Kunstwerks gesehen hat, dann müssen wir uns die Frage heute irgendwie anders stellen. Eigentlich paradox, dass ein Massenprodukt, was für Benjamin oder Adorno befremdlich oder sogar zutiefst verhasst war, heute das Absolute ausstrahlt. Das finde ich interessant, aber auch manchmal beunruhigend.
Das ist auch eine schöne Überleitung: Immer wenn es bei dir gesellschaftlich wird und du herrschaftliche Strukturen thematisierst, dann ist das schon immer sehr kapitalismuszentriert …
… ja, aber ich weigere mich so ein bisschen dagegen, das Kapitalismuskritik zu nennen. Der Begriff „Kritik“ wird ja gar nicht mehr als „Analyse“ verstanden, sondern immer als ein Schwung mit der Moralkeule. Ich interessiere mich in meinem künstlerischen Schaffen – aber auch in meinem Bewusstsein als Mensch – mehr für die Psychosen der Gesellschaft als für ihre Ungerechtigkeiten, weil ich nicht glaube, dass irgendwer frei davon ist. Der Kapitalismus ist – zumindest von mir – als zentraler Bestandteil unserer Weltanschauung und als Projektionsfläche für Herrschaftsstrukturen anerkannt, die es aber wahrscheinlich immer gibt.
Das klingt eher pessimistisch …
Ich gerate öfters in Streit mit Menschen, die sagen, es wäre herrschaftsfreier Diskurs möglich. Ich stelle dem immer gegenüber, dass ich keinen „herrschaftsfreien Diskurs“ will. Wovor ich mehr Angst habe, ist eine diskursfreie Herrschaft. Irgendwer ist immer der Stärkere. Wenn es der mit den besseren Argumenten ist, dann war es vielleicht auch derjenige, der mehr Zeit hatte, die besseren Argumente zu suchen, weil er weniger arbeiten muss – und da sind wir wieder im Materialismus.
Wenn wir Funktionen, die Herrschaftsstrukturen erzeugen und von ihnen erzeugt werden, betrachten: War das ein Anspruch für dich, sprachliche Mittel im Laufe der Zeit zu verändern?
Du sprichst die vermeintliche Homophobie an, oder?
Ein Stück weit, die Frage zielt aber mehr darauf ab, ob du deine Art, Texte zu schreiben, verändert und weiterentwickelt hast.
Ja, definitiv. Vor ein paar Jahren gab es diese „Art of Rap„-Dokumentation. Rakim hat erzählt, wie er Texte schreibt. Er hat 16 Punkte aufs Blatt gemacht, pro Zeile einen Punkt aufs leere Blatt und hinter diesen Punkt eine Zeile geschrieben, die in ein bestimmtes Taktmaß reinpassen muss. Ich versuche mittlerweile wirklich, alle zwei Zeilen ein Bild zu erzeugen und habe auch angefangen, über mehrere Zeilen einen zusammenhängenden Satz zu schreiben. Nicht diesem Hashtag-assoziativen Verfahren folgend, sondern wirklich abgeschlossene Sätze. Was Rakim da gesagt hat – dass man wirklich für jede Zeile einen Treffer landen muss, das hat mir sehr geholfen!
Da befindest du dich eigentlich in einem interessanten Kontinuum zwischen „Hashtag“ und Geschichtenerzählen. Du sagst zum Beispiel in älteren Tracks Dinge wie: „Du schreibst Geschichten, ich schreibe Sätze“.
Ja, gut, ich war nie so der Storyteller, aber das waren auch teilweise sehr kontextuelle Aussagen, bezogen auf einen bestimmten Rapper. Das ist dann auf einer Platte gelandet und alle denken: „Ok, jetzt hat er ein neues Rapgesetz formuliert!“ Ich bin da auch irgendwie offener und mutiger geworden und wenn ich mir irgendwo widerspreche, finde ich es gut, dass Leute das auch wahrnehmen und mich damit konfrontieren.
„Der Urlaub war so schön“ beschäftigt sich mit der deutschen Verdrängungskultur. Was ist deiner Meinung nach für die gesellschaftliche Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins erforderlich?
Man muss der Fairness halber sagen, dass es zum Beispiel in der spanischen Gesellschaft nicht sehr viel besser ist, dass sich in Deutschland und in Österreich im Vergleich mit anderen Tätergesellschaften schon was getan hat. Aber eines hat mich immer gestört. Seit ich das erste Mal gehört habe, dass es einem Deutschen leid tut, im gleichen Atemzug hinzugefügt wurde, dass er keine Lust hätte, sich immer entschuldigen zu müssen. Wann war das denn? Dieses „Sich-immer-entschuldigen-müssen“? Diese Periode gab es nie! Jede Reue diesbezüglich war immer eine Reue (zögert) auf Kredit, den wir uns in Form von Vergeben zurückzahlen lassen wollen. Und da der Begriff „Verdrängungskultur“ gefallen ist: Verdrängung ist etwas, was unseren Alltag bestimmt und das spiegelt sich halt in der kollektiven Psyche wider.
„Der Urlaub war so schön“ kann man letztlich auf eine Anekdote runterbrechen: Ich glaube, ich war in der 11. Klasse auf Stufenfahrt im Konzentrationslager Buchenwald und ich war immer irgendwie alleine mit meiner Einstellung zur deutschen Geschichte. Wir waren am letzten Tag auf dem Gelände – auch geil, so was in den letzten Tag, auf der Rückfahrt von Weimar, zu packen – und meine Klassenkameraden haben sich darüber unterhalten, auf welche Party sie an dem Abend noch gehen wollen, das Menü, das sie sich danach bei McDonalds kaufen wollen, über solche Dinge eben. Das alles gepaart mit antisemitischen Äußerungen, vermeintlichen Witzen, die ich jetzt nicht wiederholen will. Das war für mich der Anstoß zu „Der Urlaub war so schön“. Es war einfach schlimm für mich, zu erleben, dass junge Deutsche in meinem Alter das so locker abfertigen. Und zwei Jahre später war dann Fußball-WM und alle konnten sich plötzlich mit Deutschland identifizieren.
Ist es dein Anspruch an dich selbst und auch an die Musik, mit deinen Texten ein gewisses Umdenken bei den Hörern hervorzurufen?
Nicht gezielt in dem Sinne, bewusst zum Umdenken von A nach B zu bewegen, weil dann wäre ich nichts als ein Demagoge oder ein selbst ernannter Weltverbesserer, was ich extrem gefährlich finde. Aber ich möchte gerne Menschen zum „Herumdenken“ anregen, um einfach das Wort „umdenken“ ein bisschen zu entkräften. Meine Texte laden dazu ein, mit der Sprache zu spielen und in ein unabschließbares Geschehen einzutreten. Das mache ich ja mit meinen Texten selber, dass ich sie verändere, wenn ich sie performe. Die Unentschiedenheit der Sprache ist etwas, was ich irgendwann für mich entdeckt habe, sie ist ein großer Schatz.
Gibt es da zentrale Inspirationsquellen für dich?
Was meine Beschäftigung mit Sprache angeht: Die Dichtung selbst, weil sie der Ort ist, an dem Worte wieder atmen können. Und auf der anderen Seite die Kunst im Allgemeinen, in der Dinge die Möglichkeit bekommen, das zu sein, was sie nicht sind. Sie bekommen dann kein Wesen mehr aufgezwungen. Ganz klare Inspiration für mich sind Jacques Derrida und auch Ludwig Wittgenstein oder Ferdinand de Saussure – vor allem Saussure – die mir irgendwie nähergebracht haben, dass die Welt wunderschön offen ist.
Ist dieses Brechen von Konventionen etwas, das dein Schaffen charakterisiert?
Nicht nur das Brechen von Konventionen, sondern auch das Bewusstsein für Konventionen. Vielleicht kann sich dieses Bewusstsein nur aus der Durchbrechung von Konventionen ergeben. Aber vielleicht trägt auch jede Konvention den Bruch in sich, wofür dann zum Beispiel Sprachwandel, den ja auch jede Sprache durchmacht, ein Indiz wäre.
Auf „Funkfreaker“ heißt es: „Ich trenne Spreu von Weizen und dabei muss ich auf 99 Prozent Rap aus Deutschland scheißen“. Außerdem kann man in den letzten Jahren vor allem Zusammenarbeiten mit internationalen Künstler beobachten. Was macht die deutsche Szene für dich so verachtenswert?
Man kriegt halt immer das Negative mit. Ich freue mich extrem, mit Leuten wie Toni L, MC Rene, David P., DJ Coolman, Mirko Machine oder Torch zu arbeiten und von denen auch Respekt zu bekommen. Das sind aber alles Leute, denen ich attestieren würde, dass sie sich nicht primär als „deutscher HipHop“ sehen. Das, was mich an deutschem HipHop stört, ist eben der Nationalismus, der in diesem Begriff mitschwingt, noch mehr im Begriff „Deutschrap“. Zusätzlich muss ich noch auf ein Phänomen in der deutschen HipHop-Szene hinweisen, welches ich „Germanozentrismus“ nenne. Wenn Leute anfangen, Partys zu machen, auf denen nur und ausschließlich deutscher HipHop läuft, finde ich das schon bedenklich. Ich beobachte auch bei vielen deutschen Rappern eine Respektlosigkeit gegenüber dem kulturellen Erbe, das sie da antreten, dem soziokulturellen Hintergrund, vor dem sie sich da bewegen. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir als Mitteleuropäer oder überhaupt als weiße Kids an dieser Sache so partizipieren können, wie wir es tun. Das repräsentiert nicht die ganze Szene, aber immer wenn ich auf weiße Rapper treffe, die das N-Wort benutzen, bricht für mich eine kleine Welt zusammen. Ich finde das nicht gut. Und dafür stehe ich auf und lege mich gerne mit den Hütern des germanischen HipHoptums an. Mit all den Kings und Königen und Kanzlern und Kaisern, die es da gibt.
Ist deutscher Rap – zumindest von der Attitüde her – zwangsweise Untergrund?
Ich bin der Meinung, guter Rap und Kunst im Allgemeinen sollten Underground sein. Ich breche es runter auf die Attitüde oder auf eine Einstellung, die ich zum Beispiel bei EPMD sehe, die mehrmals Gold gegangen sind, aber sich nie den Trends angepasst haben und deren Single „Crossover“ dieser Einstellung ein Denkmal gesetzt hat: „Wir machen das, was wir machen wollen und wenn wir damit erfolgreich sind, ist es unser Verdienst und wenn ihr es nicht haben wollt, ist es auch ok. Aber wenn ihr UNS wollt, dann müsst ihr zu UNS kommen und nicht umgekehrt.“
Zum Abschluss: Wie stehst du zum Spagat zwischen „Geldgeilheit“ und „von der Kunst leben wollen“?
Von Kunst zu leben, finde ich super. Ich mache es ja selbst und bin extrem dankbar dafür, aber auch hier gilt: Wenn man merkt, man gerät an seine Grenzen und das, was man machen will und was man machen muss, um davon zu leben, divergiert zu stark – mach dir einen Plan B! Viele Leute sagen, sie wollen von der Musik leben – aber wie? Die wollen auch einen Mercedes und zweimal im Jahr in den Urlaub fahren und das ist das Ding. Es gibt Leute, die wirklich alles für die Musik geben und das finde ich toll, aber dann muss man auch in der Lage sein einzubüßen – und das können viele nicht.
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