Ein Leben voller Schmerzen // R.I.P. DMX (1970–2021)

Earl Simmons, besser bekannt als DMX, ist am 9. April 2021 nach einem Herzinfarkt gestorben. Der kommerzielle Rap-König der Jahrtausendwende wurde 50 Jahre alt. Musik war für den Rapper mit der markant rauchigen Stimme und den bedrohlichen Hunde-Adlibs nicht nur Kunst, sondern Ausdruck eines Gefechts gegen innere Dämonen. Ein Gefecht, das ein Leben lang anhalten sollte. Ein Nachruf.

(c) Ruff Ryders Entertainment/Def Jam Recordings

Es gibt sehr viele gute Rapper*innen. Es gibt auch viele sehr gute Rapper*innen. Aber es gibt nur sehr wenige außergewöhnliche Rapper*innen. Rapper*innen, die stilistisch ganz für sich alleine stehen. DMX gehörte in diese Riege, hob er sich aus mehreren Gründen deutlich von der Masse ab. Dafür verantwortlich waren weder eine ausgeklügelte Technik oder ein breiter Wortschatz, sondern seine Stimme, seine aggressive Attitüde, deren bekanntester Ausdruck das bedrohliche Hunde-Knurren war, und seine Texte, in denen neben einem ganzen Potpourri aus Gewalt und Kriminalität Spiritualität und Mental Health zentrale Motive sind.

Auf düsteren, bisweilen ur-simplen Synthie-Beats von Produzenten wie Swizz Beatz oder Dame Grease trug DMX keine Kämpfe aus. Nein, das würde der Stimmung, die er in seiner Musik verbreitete, nicht gerecht werden. Es waren Schlachten, die er am Mikrofon führte. Schlachten, die er sehr oft gegen seinen größten Gegner führte: sich selbst. Schlachten, die ihn zu dem dritten großen Rap-Superstar nach 2Pac und The Notorious B.I.G. machen sollten.

Die Zahlen, die nach Jay-Z bekanntlich nicht lügen, sprechen eine eindeutige Sprache. Weltweit verkaufte DMX 74 Millionen Platten, davon alleine in den USA 15 Millionen. Seine ersten fünf Solo-Alben landeten jeweils auf den ersten Platz der US-Billboard-Charts. Mit „It’s Dark and Hell Is Hot“ und „Flesh of My Flesh, Blood of My Blood“ gelang ihm 1998 das Kunststück, mit zwei Alben innerhalb eines Jahres Platin-Auszeichnungen zu erhalten. Erfolge, die das dritte Album „… And Then There Was X“ (2001) noch übertraf, das in den USA mit 5-fach-Platin ausgezeichnet wurde. Für das legendäre, zu diesem Zeitpunkt aber arg strauchelnde Label Def Jam war DMX die Lebensrettung: „DMX is going to save the company!“, soll einst Def-Jam-Präsident Lyor Cohen in den Gängen des Def-Jam-Headquarters angesichts des Erfolgs von „Flesh of My Flesh, Blood of My Blood“ geschrien haben.

Neben den Zahlen war die Menge an Geschäftsfeldern, auf denen sich das Oberhaupt der Ruff Ryders bewegte, Ausdruck seines Superstar-Status. So war DMX auch als Schauspieler unterwegs. Er spielte zwar in überwiegend seichteren, dafür aber erfolgreichen Action-Filmen wie „Romeo Must Die“ (2000) oder „Exit Wounds“ (2001) mit und tauchte dort in Rollen auf, die wie große Teile seiner Musik von einer knallharten Aura leben.

Zudem veröffentlichte er mit „E.A.R.L.: The Autobiography of DMX“ 2002 seine Memoiren, er war in einem Videospiel als Character spielbar („Def Jam: Vendetta“, 2003) und hatte seine eigene Klamottenlinie. Doch der immense Erfolg konnte die Dämonen nicht in die Knie zwingen, die Earl Simmons seit frühester Kindheit begleiteten. 

Die Hölle, das sind die anderen

Earl Simmons‘ Kindheit liest sich wie ein einziger Albtraum, als Abfolge von traumatischen Ereignissen, die Frank McCourts Pulitzer-gekrönte Erzählung „Angela’s Ashes“ (1996) über eine Kindheit in der armutsgeplagten irischen Stadt Limerick in den 1930er-Jahren in nichts nachstehen.

Earl Simmons wurde als zweites Kind der 19-jährigen Arnett Simmons und des 18-jährigen Joel Baker in Mount Vernon, New York geboren. Sein Leben stand von Beginn an unter keinen guten Stern. Sein Vater, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Aquarellen verdiente, wollte nichts von seinem Sohn wissen und ließ die Familie im Stich: „My mother, my father, I love ’em, I hate ’em/Wish God, I didn’t have ’em, but I’m glad that he made ’em“, sollte DMX 2001 auf dem Song „Who We Be“ rappen.

Earl Simmons wuchs mit insgesamt fünf Schwestern bei seiner Mutter und ihren wechselnden Lebensgefährten in Yonkers auf, einer von Kriminalität geplagten und in den 1980er-Jahren ethnisch segregierten Stadt nördlich des New Yorker Viertels Bronx. Gewalt war ein ständiger Begleiter in Earl Simmons‘ Leben, beispielsweise schlug Arnett Simmons einmal ihrem Sohn mit einem Besen drei Zähne aus.

Die Armut der Familie erinnert an Beschreibungen von Charles Dickens oder eben Frank McCourt, im Apartment der Familie drangsalierten Mäuse und Kakerlaken Earl Simmons im Schlaf. Hinzu kam sein schlechter Gesundheitszustand, litt er an chronischem Asthma und musste etliche Male in die Notaufnahme eingeliefert werden: „My shit used to be real bad. I remember many scary nights waking up not being able to breath“, so DMX in seiner Autobiografie.

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Ein IQ-Test bescheinigte Earl Simmons außerordentliche Intelligenz, die sich in Yonkers aber nicht entfalten konnte. Im Gegenteil, wurde Earl Simmons im Alter von sieben Jahren zum ersten Mal straffällig: Er wurde beim Versuch, Kuchen aus einem Laden zu stehlen, erwischt. In der Schule fiel Earl Simmons ebenfalls negativ auf: Er schmiss mit Stühlen auf das Lehrpersonal oder stach mit einem Stift auf einen Mitschüler ein. 

Earl Simmons wurde von der Schule verwiesen und von seiner Mutter – mit einem Trick – in ein Internat geschickt. Doch auch dort unterordnete sich Earl Simmons nicht und fiel rasch auf. Wenige Monate nach seiner Ankunft wurde er wegen Brandstiftung festgenommen. Nachdem er das Internat aufgrund diverser Gewaltakte verlassen musste, kehrte Earl Simmons nach Yonkers zurück. Dort lebte er auf der Straße, schlief in Altkleidercontainern und freundete sich mit Straßenhunden an. Sein Faible für Hunde sollte später einen wesentlichen Teil dessen ausmachen, was er in seiner Musik präsentierte. 

Raub und Rap

Als Teenager entdeckte Earl Simmons HipHop für sich und versuchte sich zunächst als Beatboxer. Ready Ron, ein lokaler Rapper, wurde auf sein Talent aufmerksam und bot sich ihm als Mentor an. Eine schicksalshafte Begegnung, die sein weiteres Leben beeinflussten sollte. Schließlich war es Ready Ron, der Earl Simmons im Alter von 14 einen mit Crack versetzten Joint reichte. Der Beginn einer lebenslangen Sucht. „A monster was born“, erzählte DMX 2020 unter Tränen beim Podcast „People’s Party with Talib Kweli“. 

In den Teenagerjahren wuchs die Kriminalitätsakte weiter stark an. Mit Raubzügen und Autodiebstählen sicherte sich Earl Simmons seinen Lebensunterhalt. Gefängnisaufenthalte waren die Quittung. Gleichzeitig nahm Rap eine immer größere Rolle ein. Nach der Oberheim Drum Machine nannte sich Earl Simmons als Rapper DMX, ein Akronym, das später die Bedeutung „Dark Man X“ bekam. Erste Songs wurden aufgenommen, darunter „Three Little Pigs“ aus dem Jahr 1991. Wer „Three Little Pigs“ hört, ist verblüfft. Auf dem Track gibt es noch wenig von den Merkmalen des späteren DMX zu hören. Stattdessen erinnern Flow und Stil an LL Cool J und Rakim. Aber mit dieser stilistischen Nähe war DMX zu dieser Zeit keine Sondererscheinung.

Seinen ersten größeren Auftritt hatte DMX 1991 bei „The Stretch Armstrong Show“, wo er gemeinsam mit Percee P performte. Im selben Jahr landete er mit seinem Demo-Tape in der „Unsigned Hype“-Kategorie des Musikmagazins The Source. Es folgte ein Single-Deal bei Columbia Records, worüber das selbstkritische „Born Loser“ erschien. Der Erfolg stellte sich nicht ein, es blieb bei dieser singulären Veröffentlichung auf Columbia. Danach tauchte DMX für einige Jahre ab, Gerüchte um ein veritables Drogenproblem machten die Runde.

An der Musik blieb DMX in diesen opaken Jahren aber nicht nur dran, sondern änderte auch seinen Stil. Seine Markenzeichen waren geboren. Bei Def Jam Recordings bekam er in der Folge die nächste Chance. Ein Kieferbruch, den sich DMX bei einer Straßenschlägerei zuzog, konnte ihn beim Vorrappen nicht aufhalten. Def-Jam-Präsident Lyor Cohen war angetan von der Aggressivität und dem Elan des Rappers aus Yonkers, der mit einem verdrahteten Gebiss performte. 1998 erschien mit „It’s Dark and Hell Is Hot“ DMX’ Debütalbum über Def Jam, das sich über 250.000 Mal in der ersten Verkaufswoche in den USA verkaufte. 

Bester Freund und skrupelloses Monster

„It’s Dark and Hell Is Hot“ gilt heute als eines der eindrucksvollsten Debütalben eines Rappers überhaupt. Schließlich macht DMX auf diesem Album, das einem atmosphärisch dichten Horrortrip gleicht, sehr vieles sehr richtig. So beinhaltet das Album Hits wie „Ruff Ryders‘ Anthem“ oder „Get At Me Dog“, Songs mit denkwürdigen Videos: „Ruff Ryders‘ Anthem“ brachte Motorräder und Quads in die HipHop-Szene, während das Schwarz-Weiß-Video zu „Get At Me Dog“ laut DMX’ Autobiografie nicht von MTV ausgestrahlt wurde, da der Sender befürchtete, dass dieses einen Aufstand initiierten könnte. 

Auf „It’s Dark and Hell Is Hot“ setzt sich DMX auch direkt mit dem Teufel auseinander, findet sich auf dem Album der erste Teil der „Damien“-Reihe, offensichtlich inspiriert vom Horrorfilm-Klassiker „The Omen“ (1976). „It’s Dark and Hell Is Hot“ ist ein Album, das die gesamte Ambivalenz der Person Earl Simmons abbildet: Es wird einerseits gebetet, man höre den Skit „Prayer“; andererseits wird geraubt, geschossen und – das ist der bestürzendste Moment auf dem Album – mit einer Vergewaltigung gedroht („X is Coming“). DMX ist auf dem Album dein bester Freund, der dir all seine seelischen Qualen anvertraut, sich aber ebenso in ein skrupelloses Monster verwandeln kann. Eines, das dir ein Messer in den Rücken rammt.

Dieser Ambivalenz blieb er auf dem zweiten Album, „Flesh of My Flesh, Blood of My Blood“, treu. Ein Album, das alleine durch sein ikonisches Artwork für Aufsehen sorgte. Ein mit Blut überzogener DMX ist darauf zu sehen, ein Foto, das so wirkt, als hätte DMX gerade im Phlegethon gebadet: Dort, wo in der griechischen Mythologie die verbannten Seelen geheilt werden, damit sie ihre Qualen weiter ertragen können. Wie der Vorgänger ist „Flesh of My Flesh, Blood of My Blood“ ein dichtes Album mit manch Überraschung. Die größte ist das Feature mit dem Pop-Antichristen Marilyn Manson für „The Omen“, dem zweiten Teil der „Damien“-Reihe. Ein Feature, das in gleichen Teilen gar nicht und doch auch sehr gut zu DMX passte.

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Doch „Flesh of My Flesh, Blood of My Blood“ ist vor allem das Album, auf dem DMX mit „Slippin’“ einen ungemein berührenden Seelenstriptease auf den Hörenden loslässt und damit den vielleicht stärksten Song seiner Karriere kreierte. Mit den Zeilen „See, to live is to suffer but to survive/Well, that’s to find meaning in the suffering“ startet er in den Song – Worte, die so authentisch nur von DMX kommen konnten. Auch „Slippin'“ sorgte dafür, dass „Flesh of My Flesh, Blood on My Blood“ ein enormer Erfolg war: In den USA verkaufte DMX 670.000 Einheiten des Albums in der ersten Woche.

Das letzte Album in DMX’ kommerzieller Hochphase wurde mit „…And Then There Was X“ 2001 veröffentlicht, das mit Hits wie „Party Up (Up in Here)“ sein erfolgreichstes Album werden sollte. Künstlerisch war „…And Then There Was X“ ebenfalls der Endpunkt einer Hochphase. Die Power der ersten drei Alben sollte DMX in Folge nicht mehr erreichen.

Zweifelsfrei hat „The Great Depression“ (2001), auf dem die „Damien“-Reihe ihren Abschluss findet, mit den kraftvollen Singles „Who We Be“ und „We Right Here“ seine Momente; und der Soundtrack-Beitrag für “Cradle 2 the Grave“ (2003), „X Gon‘ Give It To Ya“ (2002), gehört ebenso zu den DMX-Klassikern wie „Where the Hood At“ aus „Grand Champ“ (2003), das allerdings aufgrund seiner homophoben Zeilen im ersten Part einen sehr bitteren Beigeschmack hat. Obwohl diese Songs ihre Qualitäten haben: Seine Bestform auf Albumlänge hatte DMX inzwischen verloren.

Vergeben, um sich selbst zu vergeben

Nach „Grand Champ“ waren die Schlagzeile um DMX weniger musikalischer Natur. Fast keine Woche verging, in der er nicht in Konflikt mit dem Gesetz geriet. Suchtmittel, Autodiebstahl, Tierquälerei – weil DMX zwar Hunde liebte, aber sich nicht immer um diese kümmerte. Alimente für seine insgesamt 15 Kinder, die er mit 9 verschiedenen Frauen hatte, blieb er immer öfter schuldig.

Bei Interviews machte er teilweise eine beängstigende Figur, er wirkte abwesend und von Drogen gekennzeichnet. Hin und wieder veröffentlichte DMX neue Musik. Aber das geriet zur Nebensache. War das 2006er-Album „Year of the Dog … Again“ bereits einfallsloses künstlerisches Wiedergekäue und konnte als erstes DMX-Album nicht die Pole-Position in den US-Charts einnehmen, ging das sechs Jahre später folgende „Undisputed“ als durch und durch müde Angelegenheit in seine Diskografie ein. Auf neue Musik mochte man daher gar nicht mehr hoffen. Man hoffte vielmehr, dass DMX sich nicht noch weiter selbst zerstören würde.

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Nach seiner letzten Gefängnisstrafe, die er zwischen 2018 und 2019 aufgrund eines Steuervergehens absitzen musste, schien DMX tatsächlich den Turnaround geschafft zu haben. DMX verzieh sogar seiner Mutter, wie er 2019 in einem beeindruckenden Interview mit dem Mode-Magazin GQ erzählte: Du musst lernen, anderen zu vergeben, um dir selbst vergeben zu können, meinte er in diesem Interview.

DMX arbeitete wieder an Musik und kehrte zu Def Jam zurück. Im Februar sagte DMX bei einem Interview mit der HipHop-Plattform Revolt TV, dass sich sein neues Album zwei Songs vor der Fertigstellung befinden würde. Für dieses arbeitete er unter anderem mit Bono Vox von U2 zusammen. DMX wirkte erstmals seit Jahren zufrieden. „The world want to see you win, man“, sagte Rapper Noreaga, der das Interview führte.

Zusammenfassend war DMX keineswegs ein Heiliger. Doch DMX war nahbar und dadurch ein Symbol für Millionen von Menschen, denen es in einem rassistischen und klassistischen System schwer gemacht wird, ihre Potenziale auszuschöpfen. DMX war deswegen mehr als bloß ein Rapper. Er war eine Identifikationsfigur. R.I.P. Earl Simmons.