"The hardest thing to do is something that is close…
Die Periode zwischen 1974 und 1990 gehört zu den dunkelsten Kapiteln der chilenischen Geschichte: Unter der Militärdiktatur des US-gestützten Augusto Pinochet ereigneten sich im lateinamerikanischen Staat zahlreiche schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, Tausende wurden ermordet, Zehntausende gefoltert. Eine hohe Anzahl von Menschen ließ das Regime verschwinden – über das Schicksal der sogenannten „Desaparecidos“ herrscht in vielen Fällen immer noch Unklarheit. Auch Jahrzehnte nach dem friedlichen Ende der Pinochet-Herrschaft infolge eines Plebiszit, das eigentlich als weitere Legitimationsgrundlage der Regentschaft des Diktators gedacht war, gestaltet sich die Aufarbeitung dieser Ereignisse weiterhin als schwieriges Unterfangen.
Eine der jüngsten Errungenschaften ist die Eröffnung des „Mueso de la memoria“ in der Hauptstadt Santiago, gewidmet den Opfern Pinochets. In Verbindung mit dem Museum steht die Familie Jaar – Alfredo Jaar, weltweit gefeierter Installationskünstler, war bei der Aufbereitung der Ausstellungsobjekte tätig, Sohn Nicolas wurde in das Museum zur Präsentation eines musikalischen Set eingeladen. Für Nicolas Jaar hinterließ seine Performance in dieser Location nachhaltigen Eindruck. Die Konfrontation mit dem Gräuel und die bedrückende Wahrnehmung, wie sehr Pinochet noch immer das Leben von vielen Chilenen prägt, inspirierten ihn zu seinem neuen, durch und durch politischen Album „Sirens“.
Ein Novum, war Politik bisher nicht das primäre Sujet in der musikalischen Karriere Nicolas Jaars. Sein Debütalbum „Space Is Only Noise“ ist zwar bunter, kaleidoskopischer Leftfield-Electro-Pop im Downtempo-Format – auf dem Jaar seinem Multiinstrumentalismus frönt – Politik spielt aber, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle. Der Nachfolger „Pomegranates“, ein alternativer Soundtrack zu Sergej Paradjanovs sowjetischem Avantgarde-Streifen „The Colour of Pomegranates“, ging ebenso in die persönliche Richtung wie die EP „Nymphs II“.
„Sirens“ bedeutet deshalb Weiterentwicklung, da er seine persönliche Geschichte nun in einem breiten politischen, chilenischen Kontext einbettet. Zwar wurde Nicolas Jaar in New York geboren und hat dort die Zeit während der Ära Pinochet verbracht. Bei seiner Rückkehr nach Südamerika erfuhr er den Schmerz der chilenischen Nation jedoch am eigenen Leib. Schließlich wirkte sein US-Background auf viele suspekt: „It was like they looked at me and saw CIA“, schildert Nicolas Jaar seine Schulzeit in Chile gegenüber dem Fader.
Auf „Sirens“ nähert sich Nicolas Jaar dem Themenkomplex Pinochet subtil an. So findet der Opener „Killing Time“, das zwischen einer Geräuschwand aus Klirren und Klacken immer wieder sanfte Pianostöße und Momente der Stille vorweist, die Nicolas Jaars Stimme schüchtern und nebensächlich wirken lassen, seine thematische Verankerung in einem breiten politischen Rahmen: Mit „I think we’re just out of time/Said the officer to the kid/Ahmed was almost fifteen and handcuffed“ und „Angela said to open the door/Money, it seems, needs its working class“ liefert Nicolas Jaar einen spezifischen, fast marxistischen Blickwinkel auf den Umgang Europas mit der Flüchtlingskrise. Vernachlässigt der Staat, gedrängt vom Großkapital, Integrationsmaßnahmen, um Flüchtlinge als industrielle Reservearmee aufzubauen? Für Nicolas Jaar kein abwegiger Gedanke.
Stärkeren Chile-Bezug nimmt Jaar im folgenden „The Governor“, das musikalisch irgendwo zwischen dem Post-Punk Joy Divisions und Synthie-Pop Depeche Modes anzusiedeln ist und thematisch auf die „Desaparecidos“ hinweist: „All the blood’s hidden in the Governor’s trunk/They keep you in a hall with all of your ilk/To echo the title of the trunk that they built„. Lässt Nicolas Jaar hier noch einigen Interpretationsspielraum zu, zeigt sich das Pinochet-Motiv am stärksten im melancholischen „No“, eine auf Spanisch gesungene Referenz zum eingangs erwähnten Plebiszit.
Eine weitere Referenz, die sich stark im Outro zu „No“ wie auch in „Leaves“ zeigt, bietet das Motiv der Löwenstatue – ein Hinweis auf das „Monumento al Genio de la Libertat“ am Plaza Baquedano in Santiago, wo tausende Chilenen den Tod Pinochets 2006 feierten. Vermengt Jaar seine Stimme meistens mit dem musikalischen Dickicht, tritt diese in „Three Sides of Nazareth“ mit ungewohnter Klarheit auf. „Three Sides of Nazareth“ weckt starke Reminiszenzen an Depeche Modes „Personal Jesus“ und dient mit Zeilen wie „He said morality is dead on that side/It’s been thrown on the ground on this side“ als weiterer Kommentar zur Flüchtlingspolitik.
Einen düsteren Ausblick gibt Nicolas Jaar schließlich auf dem Abschlusstrack des Albums, dem Doo-Wop inspirierten, fast grotesk instrumentalisierten „History Lesson“. Zentrale Stelle dabei die Auflistung von sechs Kapiteln, die nicht nur auf Chile Bezug nehmen: Wer sich die gegenwärtige politische Lage in vielen Staaten ansieht, findet in Nicolas Jaars konzisen Sätzen eine erschreckende Analyse vor, der nur mit einem Kopfnicken begegnet werden kann.
Chapter one: We fucked up. Chapter two: We did it again, and again, and again, and again. Chapter three: We didn’t say sorry. Chapter four: We didn’t acknowledge. Chapter five: We lied. Chapter six: We’re done
Musikalisch scheint auf „Sirens“ besonders Jaars Vorliebe für das Piano durch, welches er regelmäßig als Konterpart zu kalten, hart klingenden Synthies einsetzt. Kontraste prägen das Album, auf Lärm folgt Ruhe, auf Dissonanzen Harmonie: In „Three Sides of Nazareth“ treffen stählerne Drums auf eine zerbrechliche-hohe Tonlage, in „History Lesson“ harte Perkussion auf eine lockere Old-Soul-Doo-Wop-Mischung. Ein Spiel mit Gegensätzen, welches Nicolas Jaar auf großartige Weise beherrscht.
Fazit: Mit „Sirens“ ist Nicolas Jaar ein beeindruckendes Manifest zu Chiles Pinochet-Ära – und darüber hinaus – gelungen. Kluge, durchdachte Lyrics mit tiefer politischer Bedeutung, die oft erst nach mehrmaligem Hören bewusst wird. Musikalisch weist „Sirens“ eine große Bandbreite an Einflüssen auf, die von Doo-Wop zu Old-Soul über Synthie-Pop reichen. Nicolas Jaar vermengt diese Zutaten mit seinem elektronischen Trademark-Sound zu einem homogenen Ganzen – und kreiert damit ein Album, das künstlerisch ähnlich bedeutungsvoll erscheint wie die Werke seines Vaters.
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