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Für sein neues Release vertraute der chilenische Produzent Nicolas Jaar auf die Mechanismen des Internets. Die Tracksammlung „2012-2017“ veröffentlichte er Mitte Februar nämlich nicht unter seinem eigenen Namen, sondern unter dem wenig bekannten Pseudonym A.A.L., Akronym für die griffige Bezeichnung Against All Logic. Der große Run auf das Album blieb deswegen zunächst aus – bis zu dem Zeitpunkt, an dem in den sozialen Netzwerken publik wurde, welche Person sich hinter den drei Buchstaben verbirgt.
Dass Nicolas Jaar hinter A.A.L. steckt, enthüllte er jedoch bereits in einem Interview mit dem Crack Magazine im Jahr 2017. Darin zeigte er sich belustigt über die Rezeption seines unregelmäßigen Veröffentlichungsrhythmus. Der Vorwurf musikalischer Releasearmut stimme gar nicht, so Jaar. Vielmehr würde er kontinuierlich Musik veröffentlichen. Nur eben nicht unter seinem eigenen Namen, sondern unter Pseudonymen. Eines davon ist eben Against All Logic; ein Name, der im Gegensatz zu seinem Projekt mit Dave Harrington, Darkside, weitgehende Obskurität anhaftet.
Der Schritt zu einem weiteren Pseudonym macht aus künstlerischer Perspektive durchaus Sinn. Kann Nicolas Jaar unter dem Alias A.A.L. unbeschwert seine Leidenschaft für House ausleben, von der er sich auf den Werken unter seinem Eigennamen längst fortbewegte. Vor allem auf seinem letzten, politischen Album „Sirens“ war davon wenig vorzufinden, gestaltete sich „Sirens“ als Aufarbeitung der Pinochet-Ära überaus verkopft und glich in seiner avantgardistischen Herangehensweise dem Soundtrack einer Kunstausstellung. Ein Album, künstlerisch ohne Frage anspruchsvoll aufbereitet und von großer emotionaler Tiefe gekennzeichnet, aber bestimmt kein lockeres Beschallungsprogramm für laue Abende im städtischen In-Club.
Weil aber der Drang nach Lockerheit immer noch in Jaar vorhanden ist, schuf er sich die Spielwiese A.A.L. Ein Ort, an dem er seine Musik wieder ins Feld des Tanzbaren rückt. Dort, wo die BPM-Zahl, anders als bei den Nicolas-Jaar-Projekten, die seit Längerem der Langsamkeit verschrieben sind, deutlich Fahrt aufnimmt. Elf Tracks, die dieser Diktion entsprechen, finden auf „2012-2017“ zusammen. Nun können weniger wohlwollende Stimmen die Vermutung anstellen, Jaar hätte sich auch hinter einem Pseudonym versteckt, weil er seinen Namen nicht mit einem Sideprojekt von minderer Qualität beschmutzen möchte. Dieser äußerst tollkühnen Vermutung wird aber schnell der Wind aus den Segeln genommen.
„2012-2017“ ist nämlich von der ersten Sekunde an Zeugnis der gespenstischen musikalischen Fähigkeiten von Nicolas Jaar. Seinen exquisiten Umgang mit Samples zeigt sich bereits im Opener „This Old House Is All I Have“: Im Zentrum der Nummer steht ein Sample von David Axelrods „The Warnings Talk (Part II)“, das Jaar mit Distortions verziert und daraus einen grandios funkigen, souligen Tune zaubert, auf dem jedes Instrument an genau der richtigen Stelle platziert ist (man höre nur hin, wie Jaar die Hi-Hats hier einsetzt). Das Gefühl, hier wisse jemand ganz genau, was er zu tun habe, bestätigt sich auf dem folgenden Track „I Never Dream“, das nicht nicht nur durch höchst ansprechendes Sampling besticht (wie Jaar die Samples schneidet und bearbeitet, ist eine wahre Freude), sondern durch die Kreation einer musikalischen Reise, die verschiedene Stimmungsfelder als Etappen enthält, einen nur so ins Staunen versetzt. Die Synthie-Lines, die Breakbeats, das Sample – alles stimmt an diesem sechsminütigen Track.
Generell ist „2012–2017“ eine einzige Lehrstunde im Sampling: Arbeitet sich Jaar in „Some Kind of Game“ durch Soul-Samples, taucht er für „Know You“ und „Now U Got Me Hooked“ (mit Dramatics-Sample) in den Bereich des Disco ab und kreiert schwungvolle Nu-Disco-Perlen. Düstere Schlagseiten bietet er mit „Such a Bad Way“ auf, das ein Sample von Kanye Wests „I Am a God“ aus „Yeezus“ beinhaltet, welches Jaar ganz harmonisch in den Sound einfügt.
Das spannendste Sample hat sich Nicolas Jaar aber für den Track „City Fade“ aufbewahrt. Eingebettet in zwei Piano-Akkords und stampfender Perkussion singt ein Kinderchor Passagen aus den Gedichten „Hetären-Gräber“ und „Quai du Rosaire“ von Rainer Maria Rilke. Jaar schickt auch „City Fade“ durch mehrere Entwicklungsstufen und erschafft einen packenden House-Tune, in dem sich Fragmente urbaner Soundkulisse wie Vogelgezwitscher und Sirenen als Laute der Stadt mit Trommeln und prägnanten Synthie-Lines zu einem, nun ja, musikalischen Kunstwerk zusammenfügen.
Seinem gewohnt experimentellen Zugang bleibt Jaar auch auf „2012-2017“ treu, da er sich in den verschiedenen Spektren der House-Music austobt: So erweckt „Hopeless“ Erinnerungen an Tech-House der Marke „Mi Mujer“, “Flash in the Pan” beginnt hingegen als Minimal-Tech-House-Tune, der sich fortlaufend zu einem vielschichtigen House-Song mit signifikanten Basslines entpuppt. Mit “You Are Going to Love Me and Scream” gestaltet Jaar einen Deep-House-Track mit catchigem Vocal-Sample und schlägt damit eine andere Richtung ein als auf dem zehnminütigen Abschlusstrack “Rave on U”, auf dem er mit unbestreitbaren Aphex-Twin-IDM-Einflüssen hantiert.
Diese Songs bieten zwei Erkenntnisse, die stellvertretend für das ganze Album stehen: Nicolas Jaar versucht einerseits, auf diesem Album die Genregrenzen von House so weit wie möglich auszuloten und wagt oft einen Bruch mit dem gängigen 4/4-Schema und punktierten Sechzehntel. Andererseits kann er den Fakt nicht kaschieren, dass es sich bei „2012-2017“ nun einmal um eine Compilation mit verschiedenen Soundwelten handelt, die einzig durch die lose Klammer des House zusammengehalten werden. Wobei die eigentlich stärkere Klammer im hohen Qualitätslevel von ausnahmslos jedem Song besteht.
Fazit: Nicolas Jaar bietet mit seinem A.A.L.-Projekt in verschiedenen Aspekten große Kunst auf, besonders sein Sampling beeindruckt schwer. „2012-2017“ ist ein ungemein grooviges, funkiges Album, auf dem jede Hi-Hat, jeder Piano-Akkord, jeder Breakbeat, jede Synthie-Line und jede Bassline genau an dem richtigen Ort gesetzt wird. Einziger Makel des Album ist der inhaltlich fehlende rote Faden; da es sich bei diesem Album aber um eine Compilation handelt, ein zu vernachlässigendes Makel. Mit „2012-2017“ hievt Jaar A.A.L. endgültig aus der Obskurität. Gut für uns, schlecht für Jaar – denn um zukünftig verborgen Musik zu veröffentlichten, muss er sich ohne Zweifel ein neues Pseudonym überlegen.
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