Now Reading
Alles auf Anfang: Evidence mit „Unlearning Vol. 1“ // Review

Alles auf Anfang: Evidence mit „Unlearning Vol. 1“ // Review

(Rhymesayers/VÖ: 25.6.2021)

Die Zeit zurück dreht Evidence auf seinem vierten Solo-Album „Unlearning Vol. 1“. Dort begibt sich Michael Perretta, so Evidence bürgerlich, auf mentale Reise zu seinen musikalischen Anfängen – zu einer Zeit, als er seinem prominenten Nachbarn beim Produzieren von Beats über die Schultern blickte. Dieser freundliche Nachbar, der dem jungen Evidence musikalische Einblicke gewährte, war Produzent QD3, der Beats für unter anderem Ice Cube und 2Pac anfertigte.

Ein einschneidendes Erlebnis, das zu einer beeindruckenden HipHop-Karriere führte: Mit den Dilated Peoples kreierte Evidence Backpack-Hymne um Backpack-Hymne und veröffentlichte bei einem Major, bevor sich der „Weatherman“ solo einen Namen machte. All diese Erfahrungen galt es für das neue Werk jedoch zu vergessen, zu verlernen, woher der Name des Projekts rührt.

Dieses Projekt mit dem Titel „Unlearning Vol. 1“ wollte Evidence am liebsten als 40-minütigen Track veröffentlichen, konzipiert als Bühnen-Performance. Da hätte das Label Rhymesayers verständlicherweise nicht mitgemacht, und aus Hörer*innen-Sicht ist die Aufbereitung des musikalischen Menüs in 14 handelsüblichen Häppchen bekömmlicher.

Minimalistischer Sound

Auch wenn Evidence die Herangehensweise änderte: Große Soundexperimente machte er nicht. Das Dilated-Peoples-Drittel bleibt seinem Stil treu und pickte zeitlose, bisweilen ins psychedelische abgleitende BoomBap-Beats. Dafür führte sein Weg nicht primär zum „Step Brother“ The Alchemist, der lediglich den skeletaren, düsteren Beat zu „Better You“ beisteuerte; wenngleich sein Einfluss auf anderen Produktionen hörbar ist. 

Auf „Unlearning Vol. 1“ bietet Evidence stattdessen eine ganze Armada an Produzenten auf. Mit vielen arbeitete er das erste Mal zusammen. Dazu zählen die Griselda-Lieblinge Daringer oder Animoss. Auch den Newcomern Eardrum (QThree) und Sebb Bash bietet Evidence eine Plattform. Vertraute Namen im Line-up sind Nottz oder Khrysis, die Evidence schon durch die „Weatherman“-Ära begleiteten.

Evidence selbst, der den Tag mit dem Produzieren eines Beats beginnt, inkludierte drei seiner Produktionen auf „Unlearning Vol. 1“. Viele Köche also, die aber einen schmackhaften Brei zubereiteten. Qualitative Ausfälle sind kaum auszumachen. Die Kehrseite: Wahre Produktions-Highlights sind ebenso rar gesät.

Zu diesen vereinzelten Highlights zählen neben dem bereits genannten „Better You“ das meditative Vibrafon-Instrumental zum Schlendern-im-Park-Track „Lost In Time (Park Jams)“ aus der Schmiede von Nottz. Ein anderes ist das mit einem dominanten wie eingängigen Soul-Sample versehene Instrumental zu „All Money 1983“, produziert von Eardrum (QThree). Beats, die vor allem eines nicht sind: Überladen, denn auf „Unlearning Vol. 1“ ist Minimalismus gefragt. Vom Klang her neigt das Album stark Richtung Bedroom-Recordings; passend, da einige Songs genau das sind. So packte Evidence etwa „Pardon Me“ in seiner ursprünglichen Version, also in der Demo-Version, aufs Album.

Berührende Zeilen

Etablierte Songstrukturen gingen beim Verlernungsprozess verloren, Evidence machte sich frei von der Regel mit 16-Bars-Parts und 8-Bars-Hooks. Ein Resultat davon ist der Song „Talking To The Audience“, das lediglich aus einem Vers besteht. Eingängige Hooks oder überhaupt Hooks sind ebenfalls nur sehr sparsam auf dem Album vorhanden. An seiner Delivery hat Evidence ebenfalls geschraubt, die Zähflüssigkeit des Vortrags wurde weiter verstärkt: „Mr. Slow Flow“ ist noch ein wenig langsamer geworden.

Das kann für den Hörenden auf Dauer monoton wirken. Im Songwriting ist so ein Zugang aber überaus herausfordernd, da jede Zeile sitzen muss und kein Platz zum Manövrieren bleibt: „I don’t waste words so the verse will rhyme“ meint Evidence folgerichtig in „All Of That Said“. Lyrisch ist „Unlearning Vol. 1“ ein gehaltvolles Werk. Zugleich ist es das persönlichste Album in seiner Diskografie.

Thematisch gewährt Evidence Einblicke in die Zeit nach einem schweren Schicksalsschlag, der ihn 2018 traf. Wenige Monate nach Veröffentlichung seines letzten Albums „Weather Or Not“, auf dem der Closer „By My Side Too“ von der Krebserkrankung seiner Partnerin handelt, verlor diese den Kampf gegen die Krankheit. Evidence musste im Folgenden in die Rolle eines alleinerziehenden Vaters schlüpfen. Mit dieser Rolle setzt er sich auf dem Album häufig auseinander: „Been rehearsing for the day I say, Your mama’s in heaven’/Hold the tears back/For you I shift my whole life/And grind till the gear’s flat/I hope you hear that“ rappt er etwa in „Taylor Made Suit“, adressiert an seinen Sohn.

See Also

Zu den besonders berührenden Passagen des Albums zählt der zweite Part im psychedelischen, von Mr. Green produzierten und mit einer Hook des britischen Sängers Murkage Dave ausgestatteten „Won’t Give Up The Danger“. Hier rappt Evidence aus der Perspektive eines Freundes, der ihm Mut in der schweren Zeit zuspricht: „I know your heart is broken and gone south/I can feel your loss and offer my time/I can offer advice/A couple dimes/A couple bucks so you don’t feel the pressure when you’re making up rhymes“. Schmerzhaft offene, ungemein ehrliche Zeilen.

Dunkle Wolken zur Seite schieben 

Auch wenn der Verlust und damit verbundene neue Herausforderungen zentrale Themen sind, hat man dennoch nie das Gefühl, dass Evidence nahe der Verzweiflung wäre. Er schafft es wieder einmal, die dunklen Wolken beiseite zu schieben. Auf „Unlearning Vol. 1“ verbirgt sich viel Motivierendes. Nicht nur einmal richtet der talentierte Hobby-Fotograf seinen Fokus auf die positiven Seiten seines Lebens: „Never forfeiting or forbidding what the greatness of my aura is/I’m orbiting, my son gave me more livin’“ heißt es schließlich auf „Pardon Me“. 

Evidence kennt seinen Wert. Als Künstler, aber eben auch als Mensch. Das legt er in „All Money 1983“ dar. Die Jahreszahl im Song weist dabei auf das Jahr hin, in dem Evidence Al Pacino traf. An sich schon eine denkwürdige Begegnung – nur ist Al Pacino durch seine Rolle als Michael Corleone in „The Godfather“ (1972) Grund dafür, dass Evidence den bürgerlichen Namen Michael trägt. Fernab dieser Begegnung stellt Evidence fest, dass Geld sehr wohl stinken kann: „All money is not good money“, wie er in der Hook betont. Äußerst reflektiert. Diesen Eindruck hinterlässt er auch auf dem Track „Delay the Issues“ mit Rookie Fly Anakin. Die Botschaft: Nimm‘ dir Zeit für die wichtigen Dinge im Leben. Denn wir haben nur eine kurze Zeit auf diesem Planeten.

Fly Anakin mit solidem Part ist nicht der einzige Rapper, der Evidence auf „Unlearning Vol. 1“ unterstützt. Die prominentesten Features kommen von Boldy James („All Of That Said“)und Conway the Machine („Moving On Up“). Beide zeigen sich von einer guten Figur, wenngleich sie thematisch jeweils ihr ganz eigenes Süppchen kochen. Für Dilated-Peoples-Nostalgie sorgt DJ Babus Beteiligung. Dieser war auf „Lost In Time (Park Jam)“ und „Moving On Up“ für die Cuts zuständig. Alles sorgfältig ausgewählte Features, die Evidence jedoch nie die Show stehlen. Sie tragen aber dazu bei, dass „Unlearning Vol. 1“ ein gelungenes Stück Musik geworden ist.

Fazit: Evidence hat sich mit „Unlearning Vol. 1“ von der „Weatherman“-Reihe verabschiedet, trotz manch Wetter-Line. Für sein viertes Solo-Album nahm sich der Kalifornier mit Ostküsten-Passion die größte künstlerische Freiheit, ohne sich zu verbiegen. Songs mit großem Hitpotential gibt es auf „Unlearning Vol. 1“ wenige, dafür aber viele schonungslos ehrliche Einblicke in den Seelenzustand eines Mitte-40-Jährigen, der sich immer selbst treu geblieben ist. Ein zeitloses Stück Musik, das einen gedanklich zu einer Zeit zurückführt, als Evidence QD3 über die Schulter blickte. 

3,5 von 5 Ananasse