"The hardest thing to do is something that is close…
Nachdem Ibeyi auf ihrem ersten, selbstbetitelten Album familiäre Verluste verarbeiteten (mit Nummern wie „Mama Says“) und sich das französisch-kubanische Duo auf dem politischeren Nachfolger „Ash“ mit Rassismus („Deathless“) und Feminismus („No Man Is Big Enough For My Arms“) auseinandersetzte, beschäftigen sich die Díaz-Schwestern auf ihrem dritten Longplayer mit Heilung. Ein Thema, dem sich die beiden auf gewohnt magisch-spirituelle Weise widmen. Darauf weist schon der Titel des Albums hin: „Spell 31“ bezieht sich auf einen Abschnitt im ägyptischen Totenbuch, einer Sammlung funerärer Sprüche aus dem alten Ägypten.
Der thematische Schwerpunkt wird im Opener deutlich: In „Sangoma“ assoziieren sich Lisa-Kaindé und Naomi Díaz mit den gleichnamigen südafrikanischen Heilerinnen, denen direkter Kontakt zu den Ahnen nachgesagt wird. Musikalisch werden die sanften Stimmen der beiden von dezent eingesetzten Trommeln begleitet. Wie in „Sangoma“ nehmen Trommeln auf dem gesamten Album eine wichtige Rolle ein; sie sind auch auf „Spell 31“ zentral für den Sound von Ibeyi. Zum Repertoire gehören dabei unter anderem Cajóns und Batá-Trommeln.
Intensiver als auf dem Opener klingen die Trommeln auf dem anschließenden traditionellen Yoruba-Song „O Inle“. Hier spinnen Ibeyi den Heilungsfaden weiter und besingen Inle, den Heiler unter den Orishas. Heilung ist auch Thema der Jorja-Smith-Kollaboration „Lavender and Red Roses“, eine elegante Kombination dreier warmer, harmonischer Stimmen. Inhaltlich handelt der Track von dem Verlangen, einer nahe stehenden Person bei der Bewältigung eines Problems helfen zu wollen. Nur setzt bei diesem Szenario die Person selbst keine Aktionen zur Lösung seines Problems. Die Erkenntnis: Es ist manchmal besser, loszulassen. Selbst wenn es schwer fällt.
Eine andere Erkenntnis verarbeiten die beiden in „Creature (Not Perfect)“: „I don’t have to be perfect“, singen sie in dem mit mystischen E-Gitarren-Klängen und bebenden Trommeln ausgestatteten Song. In einem Interview mit NME stellten sie klar, wie schwierig es war, zu dieser Erkenntnis zu gelangen – vor allem in einer Zeit, in der angebliche Perfektion tagtäglich auf Social-Media-Kanälen vorexerziert wird. Passend dazu rufen sie auf dem spärlich instrumentalisierten, überwiegend aus einem Drone-Effekt und einer Bass-Line bestehenden „Tears Are Our Medicine“ dazu auf, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Auch das kann heilsam sein.
Ahnenverehrung
Im Rahmen des Kernthemas beschäftigen sich Ibeyi auf „Spell 31“ auch mit Identität. Davon handelt „Sister 2 Sister“, auf der Ibeyi ihre geschwisterliche Verbundenheit zelebrieren. Hier geben sie sich auch nostalgischen Gefühlen hin – etwa, wenn sie sich an kindliche Performances von Shakira-Songs vor dem Spiegel zurückerinnern.
Getreu ihrer Rolle als Sangomas steht „Made of Gold“ im Zeichen der Ahnenverehrung. Dafür holten sie sich Unterstützung vom gambisch-britischen Rapper Pa Salieu, der „Made of Gold“ mit einem exzellenten Rap-Part vergoldet. Am Ende des Tracks wird mit „Oh, you with a spine/Who would work your mouth against this magic of mine/It has been handed down in an unbroken line/The sky encloses the stars/I enclose magic/I enclose magic“ schließlich aus dem „Spell 31“ zitiert.
An verstorbene Familienmitglieder und einflussreiche Künstler*innen wie Prince gedenken die beiden auf dem abschließenden Call-and-Response-Song „Los Muertos“. Dieser ist eine Neuauflage des Songs „Rezos“ von Miguel „Angá“ Díaz, dem 2006 verstorbenen Vater der beiden, der sich als Percussionist im Diensten des Buena Vista Social Club einen Namen machte.
Miguel “Angá” Díaz taucht aber nicht nur im Closer auf: Für das Highlight der Platte, „Rise Above“, wurde ein Drum-Sample aus seinem musikalischen Œuvre geloopt. Bei „Rise Above“ handelt es sich um ein Cover des Hardcore-Punk-Klassikers von Black Flag. Ibeyi, die den Song coverten, ohne das Original zuvor gehört zu haben, machten daraus eine soulige Protest-Hymne inklusive einem inhaltlich passenden Feature-Part des Londoner Rappers BERWYN. „Rise Above“ tritt also quasi die Nachfolge von „Deathless“ aus dem Vorgänger-Album an.
Doch nicht nur der Vater mischt auf „Spell 31“ mit: Auch die Mutter, die französisch-venezolanische Sängerin Maya Dagnino, ist auf dem Album zu hören. In „Foreign Country“ erzählt sie über die Bedeutung von Zwillingen: „Ibeyis are the ultimate harmony between two people“, sagt sie darin.
Ibeyi leben Synkretismus
Zusammenfassend ist „Spell 31“ erneut Ausdruck des von Ibeyi gelebten Synkretismus – das zeigt bereits die Vielfalt an Sprachen, sind neben Englisch und Spanisch Französisch und Yoruba auf dem Album zu hören. Musikalisch ist „Spell 31“ ein einziges Potpourri verschiedener Stile: Jazz, Soul und R’n’B treffen auf Art-Pop, TripHop-Anleihen, HipHop und Afro-Beat. All diese Komponenten fügen Ibeyi zu einem stimmigen Gesamtbild aus 10 Musikstücken zusammen. In dieser Kohärenz liegt die Stärke des Albums.
Ein Grund, warum die einzelnen Titel auf „Spell 31“ noch stärker ineinandergreifen als auf den Vorgängern, liegt möglicherweise in der geänderten Arbeitsweise. Dieses Mal hat Lisa-Kaindé Díaz nicht die Songs alleine auf dem Klavier geschrieben und ihrer Schwester und dem XL-Recordings-Chef Richard Russell anschließend die Komposition der dazugehörigen Beats überlassen. Für „Spell 31“ hat Naomi Díaz gemeinsam mit Russell in einem ersten Schritt die Beats komponiert. Danach musste Lisa-Kaindé Díaz ihre Texte an die Instrumentals anpassen.
In dieser veränderten Arbeitsweise sehen Ibeyi selbst den Grund für das Equilibrium, das auf dem Album zwischen den beiden herrscht. „Spell 31“ sei schließlich ihr ausbalanciertestes Werk, so Lisa-Kaindé Díaz gegenüber NME. Das stimmt, ergänzen sich Lisa-Kaindé und Naomi Díaz auf dem Album in Yin-Yang-Manier.
Mittlerweile können sich die beiden auch den Luxus leisten, auf ihre eigenen Werke zu referenzieren. Das passiert etwa auf „Sister 2 Sister“, in dem Ibeyi auf den Song „River“ („Washing our souls in the river“) verweisen. „Spell 31“ ist schließlich ein Album, auf dem die beiden 27-Jährigen auf ihre bisherige Karriere zurückblicken, die im Alter von 18 Jahren begann. Eine Karriere, der sie mit „Spell 31“ einen neuen künstlerischen Höhepunkt bescheren.
Fazit
Mit „Spell 31“ präsentieren Ibeyi ihr bis dato ausgereiftestes Werk. „Spell 31“ ist ein in sich geschlossenes Album mit einer eindrucksvollen Bandbreite verschiedener musikalischer Stile, die Ibeyi zu einem großen Ganzen vereinen. Für eine halbe Stunde entführen einen Ibeyi in ihr Universum, in dem sich die beiden Sangomas der Macht der Musik hingeben. Das Ergebnis ist Musik, die nicht nur Heilung thematisiert, sondern selbst heilende Wirkung hat.
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