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Schwer wiegt die Krone des Kendrick Lamar: „Mr. Morale & The Big Steppers“ // Review

Schwer wiegt die Krone des Kendrick Lamar: „Mr. Morale & The Big Steppers“ // Review

Sie sind selten geworden, aber es gibt sie noch: Musik-Alben, auf deren Veröffentlichung sehnsuchtsvoll hingefiebert wird. Alben dieser Kategorie versprechen nicht nur eine besonders lange Halbwertszeit. Sie sollen auch ein kleines bisschen mehr als „nur“ Musik sein. Der Kreis der Protagonist*innen, denen die Anfertigung solcher Werke zugetraut wird, ist naturgemäß sehr klein. Kendrick Lamar gehört zweifelsfrei zu diesem Kreis. Als wären die Erfolge in der Musikwelt nicht genug, hat der 35-jährige Kalifornier schließlich sogar einen Pulitzer-Preis auf seiner Visitenkarte stehen: 2018 wurde er für sein Album „DAMN.“ als erster Vertreter der rappenden Zunft mit dem prestigeträchtigen Medienpreis ausgezeichnet.

Wenn also Kendrick Lamar ein neues Album ankündigt, dann erwartet die Hörer*innenschaft Großtaten in der Qualität seiner bisherigen Veröffentlichungen. Wenn es sich dabei noch um das erste Album seit fünf Jahren handelt – oder seit „One-thousand eight-hundred and fifty-five days“, wie Kendrick Lamar im Opener „United in Grief“ erklärt –, schmälert das ebenso wenig die Erwartungen wie das Format. Mit „Mr. Morale & The Big Steppers“ veröffentlicht Kendrick Lamar sein erstes Doppelalbum – und zugleich zum letzten Mal über TDE.

Für zusätzliche Spannung sorgt, dass sich Kendrick Lamar in diesen „One-thousand eight-hundred and fifty-five days“ weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Mit Ausnahmen weniger Feature-Parts und der Gründung der Medien-Firma pgLang, gemeinsam mit Produzent Dave Free, ist es ruhig um ihn gewesen. Obwohl sich gerade zu dieser Zeit in der Welt so viel ereignet hat. Was hat er also getan? Auf „Savior“ gibt es mit „Protecting my soul in the valley of silence“ die Antwort. Und warum? Weil „I’ve been goin‘ through somethin‘“, wie er bereits in den ersten Sekunden des Albums darlegt.

Die Katze ist aus dem Sack

Der inhaltliche Schwerpunkt von „Mr. Morale & The Big Steppers“ liegt auf Kendrick Lamars psychischen Struggles. Als Narrator*innen begleiten Lamars Partnerin Whitney Alford und der deutsch-kanadische Psychotherapeut Eckhart Tolle durch das Album. Beim promi-erprobten Tolle begab sich Kendrick Lamar in Therapie.

Die Probleme, bei denen Kendrick Lamar Unterstützung von Tolle suchte und die er in Songform goß, sind vielfältig. Dazu gehört der enorme Druck, dem sich Kendrick Lamar ausgesetzt sieht – Druck, der darauf basiert, dass ihm mancherorts messiashafte Fähigkeiten zugeschrieben werden. Dieser Zuschreibung erteilt er in „Savior“ eine Abfuhr: „The cat is out the bag, I am not your savior“, stellt er fest, Dornenkrone am Cover hin oder her.

I got daddy issues, that’s on me“, bekennt Kendrick Lamar stattdessen in „Father Time“. Diesen Vaterkomplex bettet er in den Kontext toxischer Maskulinität und generationsübergreifender Traumata in der Black Community ein. Garniert wird „Father Time“ mit Samphas elegantem Vibrato in der Hook – und fertig ist einer dieser Momente, die einen ins Staunen darüber versetzen, wie mühelos Kendrick Lamar herausfordernde Themen in einen Song verpacken kann. Das gilt ebenso für das ergreifende „Mother I Sober“, das eine Gänsehaut-Hook der Portishead-Frontfrau Beth Gibbons enthält und von Missbrauch und (Sex-)Sucht handelt.

Sexsucht ist auch Sujet von „Worldwide Steppers“. Der Song zeichnet sich durch dichtes Storytelling aus, das man von Lamar aus Songs wie „The Art of Peer Pressure“ aus „good kid, m.A.A.d city“ kennt. Kendrick Lamar vermag es, dank seiner lyrischen Skills seine Erlebnisse dem Hörenden ganz nahe zu bringen. Das kann kaum jemand so gut wie er.

Der unbequemste Song des Albums ist „We Cry Together“. Die Kollaboration mit Taylour Paige, die bis dato vor allem als Schauspielerin in Erscheinung trat („Zola“), beginnt rätselhaft mit einem Florence-Welch-Sample aus dem Song „June“. Die Einleitung zu einem hässlichen Beziehungsstreit, den Lamar und Taylour Paige in „We Cry Together“ ausfechten: „The insecurities you got, won’t mind-fuck me/Womanizer, got no affection from yo‘ mama, I see“ lautet einer der Vorwürfe von Paige in Richtung Lamar. Mit „We Cry Together“ hat Kendrick Lamar seine Version des Eminem-Songs „Kim“ auf das Album gepackt. Nur gut, dass die nachfolgende Ballade „Purple Hearts“ mit überragendem Ghostface-Killah-Part die Wogen wieder glättet.

Konfrontation gesucht

I can’t please everybody“, behauptet Kendrick Lamar auf „Crown“. Eine These, die nicht im luftleeren Raum stehen bleibt. Tatsächlich gibt es auf dem Album durchaus Stellen, bei denen er nicht den Weg Richtung Konformität gesucht hat – sondern Richtung Konfrontation.

„Auntie Diaries“ gehört dazu. Der Song handelt von trans* Menschen in Lamars Familie. Die Intention ist ohne Zweifel als positiv zu betrachten und wurde allgemein so wahrgenommen. Aber die Ausführung brachte dem Kalifornier teilweise harte Kritik ein – Deadnaming, Verwendung falscher Pronomen und des F-Worts, das er in Bezug mit dem N-Wort setzt, bilden den Kern der negativen Stimmen rund um den Song. Vorwürfe, die durchaus ihre Grundlage haben. Insgesamt eine etwas schludrige Vorstellung, die man so nicht von Kendrick Lamar gewohnt ist.

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I can’t please everybody“ gilt auch für Kendrick Lamars Zugang zur sogenannten „Cancel Culture“, über die er sich auf dem Album immer wieder auskotzt. Das hinterlässt einen ebenso trotzigen Eindruck wie die mehrfache Appearance von Kodak Black. Nachdem bekannt wurde, dass Kodak Black unter anderem eine Minderjährige sexuell genötigt hat, wurden Rufe nach einem Boykott des Rappers aus Florida laut. Nach Gunna und Future gibt ihm 2022 aber auch Kendrick Lamar eine große Bühne – die er nutzt, hat Kodak Black auf dem melodischen Trap-Banger „Silent Hill“ einen fulminanten Part. Dennoch: Ein schaler Beigeschmack bleibt. 

Selbst ein Kendrick Lamar ist nicht perfekt

Eine Überraschung sind die Beats, die auf „Mr. Moral & The Big Steppers“ ungewohnt konventionell ausfallen. Das klingt negativer, als es de facto ist, aber: Für einen „Wow“-Effekt, wie man ihn etwa von „To Pimp a Butterfly“ bekam, sorgen die trappigen, piano- und streicherlastigen Beats, die unter anderem DJ Dahi, The Alchemist, Boi-1da oder DJ Khalil in Teamarbeit anfertigten (kein Song hat weniger als drei Produzenten) nicht. Wie die Beats jedoch arrangiert sind, ist wiederum beeindruckend. Beispielhaft das psychedelische „Purple Hearts“-Instrumental: Hier setzen die harten Drums beim Ghostface-Part aus, womit dessen Zeilen noch mächtiger wirken. Das erzeugt dann doch einen kleinen „Wow“-Effekt.

Auffallend ist auch, dass „Mr. Morale & The Big Steppers“ keinen richtigen „Hit“ für die Massen enthält. Das Album hat kein „Bitch, Don’t Kill My Vibe“, kein „i“, kein „Humble“. Hit-Potenzial haben am ehesten das mit Corona-Referenzen ausgestattete „N95“, ein fast schon Standard-Trap-Track, und der locker-flockige R’n’B-Cut „Die Hard“ mit Gesangsbeiträgen von Blxst und Amanda Reifer. Der absolute Standout-Track fehlt jedoch.

Aber diese Kritikpunkte belegen wiederum nur: Selbst ein Kendrick Lamar ist nicht perfekt. „I choose me, I’m sorry“ reflektiert dieser im Closer „Mirror“. Da hat er noch einmal die Katze aus dem Sack gelassen. Auf „Mr. Morale & The Big Steppers“ kommt Kendrick Lamar am Ende zu der Erkenntnis, dass er nur sich selbst Rechenschaft schuldig ist – seine Conclusio eines Albums, auf dem er offen zu seinen Schwächen steht. Dass dabei ein starkes Album herauskommt, ist wieder typisch Kendrick Lamar.

Fazit

Auf seinem fünften Album geht es Kendrick Lamar vor allem um eine Person: Kendrick Lamar. Textlich schonungslos beleuchtet er seine Psyche, was bisweilen schmerzhaft sein kann. An Eigenkritik, aber auch gesellschaftskritischen Tönen mangelt es dem Album nicht. Erstklassig vorgetragen auf unerwartet konventionellen Beats, ist „Mr. Morale & The Big Steppers“ ein Werk, das nachhaltig im Gedächtnis bleibt – wenngleich es nicht ganz das Niveau der Vorgänger erreicht. Was wiederum auch nur eines ist: menschlich.

4,5 von 5 Ananas